, 3. April 2019
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Ionisation im Pfalzkeller

Auf Einladung von newart music/contrapunkt gastierte das junge Ensemble PulsArt in St.Gallen. Klassiker der Neuen Musik und Unbekanntes im Gepäck, liessen die Studierenden des Vorarlberger Landeskonservatoriums aufhorchen. Und St.Gallen hörte erstmals Varèse.

Es war alles ein wenig anders an diesem denkwürdigen Konzertabend. Zwei der im Programm ausgeschriebenen Werke wurden nicht gespielt. Bei den beiden als Uraufführungen deklarierten Kompositionen handelte es um Schweizer Erstaufführungen. Kein György Kurtag, kein Bernd Alois Zimmermann. Dafür wurde Edgard Varèses Ionisation wiederholt.

Und – das Publikum blieb aus, vermutlich der verspäteten Werbung geschuldet.

Doch machte PulsArt Ensemble für Neue Musik mit dem kompakten Auftritt unter der Leitung von Benjamin Lack sein Kernanliegen manifest: Emblematische Werke des 20. Jahrhunderts zu Gehör zu bringen und jungen Komponisten eine Plattform zu bieten.

Denkwürdiges Ereignis

Die Recherchen bringen es ans Licht: Noch nie wurde ein Werk von Edgard Varèse in St. Gallen aufgeführt. Ein liegengebliebener Wunsch der Contrapunkt-Gründer Alfons Karl Zwicker und dem hier Schreibenden ging in Erfüllung. Die Interpretation der rein für Schlagwerk notierten Ionisation des amerikanischen Komponisten war also eine absolute Première. Mit Souveränität bedienten die dreizehn (!) jungen Perkussionisten das angereicherte Arsenal ihrer Instrumente, denn vieles in dieser Partitur ist eine Frage der Organisation.

Nehmen wir zur Kenntnis: Ionisation bedeutet eine Elektronenabspaltung durch Energiezufuhr. Mit Wucht treffen die Klänge des erratischen Tüftlers Varèse aufs Ohr. Inzwischen hat die Ionisation neunzig Jahre auf dem Buckel. Doch wirkt diese Musik visionär ins 21. Jahrhundert und noch weiter. Toll komponiert, überwältigend aufgeführt – wow!

Klassik oder Jazz?

Raphael Lins, einundzwanzigjährig, aus der Schule des Vorarlberger Komponisten Herbert Willi, hat 2018 ein Konzert für Vibraphon und Ensemble vorgestellt. Zwei bewegte Abschnitte schliessen einen Lentosatz ein. Ein klassisches Muster. Jenseits avantgardistischer Mittel lässt es sich in diesem Konzert aufmusizieren. Slavik Stakhov, selbst Lehrender am Vorarlberger Landeskonservatorium, tut das mit Lust und Engagement. In einigen Momenten hat die Komposition einen Zug ins Improvisatorische von Jazz, und man fragt sich, ob das notiert sein muss.

Pflanzlicher Wuchs

Das Konzert op. 24 von Anton Webern ist von anderem Kaliber. Nicht ohne Grund bildete dieses strengst zwölftönig gehaltene Werk den Anknüpfungspunkt der Nachkriegsavantgarde à la Stockhausen und Boulez.
Die drei Sätze des Konzerts op. 24 sind in kristalliner Form aus Dreiergruppen strukturiert. Dem Ensemble PulsArt gelang es auf eindrückliche Art, der anorganischen Struktur einen fast pflanzlichen Wuchs angediehen zu lassen. Auf diese Art gewinnt Weberns Komposition einen Flow und schafft Raum.

«Es passiert beim Schreiben»

Die Musik für Kammerorchester (2018) von Tristan Uth verlangte die grösste Besetzung des Abends. «Ich habe keinen Plan. Sie können es hören wie sie wollen», verlautbarte der anwesende Komponist im Vorfeld. Und tatsächlich war seinem Werk auch seine Auseinandersetzung mit indischer und spiritueller Musik anzuhören. Ohne dem Werk nun das Etikett «meditativer Musik» anhängen zu wollen, wäre vielleicht in Momenten zu kritteln, das Werk pflege zuviel Schönklang. Andrerseits könnte man sich doch auch an diese Tonsprache gewöhnen. Frisch ist das allemal. Das Litraphon (Klangstein) strich Uth, vor dem Kammerorchester sitzend, gleich selbst.

Eine engere Vernetzung mit den Vorarlbergern wäre zu wünschen. Vielleicht gäbe das der Präsentation von klassischer Gegenwartsmusik in St. Gallen neue Impulse. Jedenfalls ist das musikalische Niveau der Studierenden des Vorarlberger Landeskonservatoriums und ihrer Lehrer bewundernswert, das Engagement hinterlässt Eindrücke. Ein Loblied also für PulsArt. Feldkirch und St. Gallen, das ist keine Distanz!

Nach dem musikalischen Paukenschlag im Pfalzkeller. (Bild: Daniel Fuchs)

 

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