, 23. Januar 2019
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Hinfort soll keine Zeit mehr sein

Das 4. Meisterzyklus-Konzert brachte Kammermusik aus dem 20. Jahrhundert in die St.Galler Tonhalle. Im Zentrum ein Meilenstein: Olivier Messiaens «Quatuor pour la fin du temps».

Die apokalyptische Verkündung des Engels vom Zeitenende ist beim St.Galler Publikum an diesem Dienstagabend hörbar und körperlich spürbar angekommen: kein Hüsteln, kein Blättern – atemlose Spannung – ein Innen aus Musik allein – und: Stille.

Ein Duo

Den Auftakt im Programm machen die dreisätzigen Märchen für Violoncello und Klavier von Leos Janácek. Sie offenbaren sich als zauberhafte Musik. Dieser unterliegt ein tonpoetisches Programm aus einem epischen Gedicht des russischen Autors Vasily Zhukovsky. Es erzählt eine Liebesgeschichte um Zarewitsch Iwan und eine schöne Prinzessin.Tanja Tetzlaff, Violoncello und Antii Siirala, Klavier interpretieren diese kleinen Tondichtungen mit Innigkeit und in fein abgestimmtem Dialog. Eigentlich bedauernswert, dass Janácek keine weiteren Kompositionen für diese Besetzung geschrieben hat.

Ein Trio

1939 emigrierte Béla Bartók in die USA. Auf Anregung des Geigers Joseph Szigeti entstanden die Kontraste für Violine, Klarinette und Klavier, das erste Werk aus dem Exil. Mitgebracht hatte Bartók sein ungarisches Gepäck. In der Neuen Welt wird er mit neuen Stilen, dem Jazz, konfrontiert. Es kommt zur Begegnung mit dem Jazz-Klarinettisten Benny Goodman, und dieser wird in der Uraufführung den Klarinettenpart spielen. Kontraste sind zwei stilisierte ungarische Tänze in Verbindung mit Jazz und ein nachträglich dazwischen geschobenes, entspannendes Lento.

Mit hinreissender körperlicher Präsenz begeben sich Sharon Kam, Klarinette, Carolin Widmann, Violine und Antti Siirala, Klavier in die Kontraste hinein und verschmelzen im Lento zu einem Körper. Im finalen Satz will man kaum mehr glauben, dass das geschriebene Musik ist. In der Interpretation der Klarinettenstimme durch Sharon Kam bekommt das Werk improvisierenden Charakter. Der Hammer!

Ein Quartett

Nie wieder habe man ihm mit grösserer Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört, erinnert sich Olivier Messiaen anlässlich der Uraufführung seines Quatuor pour la fin du temps im Kriegsgefangenenlager Görlitz am 15. Januar 1941. Nennen wir es Betroffenheit, nennen wir es Ergriffenheit: Die Aufführung des Quatuor hinterliess auch fast achtzig Jahre danach an diesem Abend in der Tonhalle einen vielleicht vergleichbar starken Eindruck. Ja, das «Quartett auf das Ende der Zeiten» ist ein Meilenstein in der Kammermusik des letzten Jahrhunderts. Ja, es ist ein kompositorisch komplexes Werk, vielfarbig und voller religiöser, endzeitlicher Symbolik. Es ist auch ein Manifest des Glaubens, entstanden in düsteren Zeiten.

Die drei Musikerinnen und der Mann am Klavier liessen alle diese Hintergründe vergessen. Ihre Interpretation lotete das Werk in seiner ganzen Tiefe aus, die ausführlichen Kommentare des Komponisten in der Partitur waren spürbar verinnerlicht.

Für den Hörer bedeutet das, durch acht Sätze mit unterschiedlichem Charakter zu gehen. Von der Genesis hin zum ewigen Licht. Herausgegriffen: Das Klarinettensolo von Satz drei «Abgrund der Vögel» bekam durch Sharon Kam diese nach unten ziehende Note. Den beiden Lobpreisungen auf die «Ewigkeit Jesu» mit der Cellistin Tanja Tetzlaff und die «Unsterblichkeit Jesu» mit Violinistin Carolin Widmann gaben die Interpretierenden jene Süsse, die ihnen gebührt. Was man erlebt, war die Aufhebung der klassischen Organisation der musikalischen Zeit. Eine Sternstunde.

 

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