, 13. Oktober 2018
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Einerseits und andererseits

Aus unserem Oktoberheft: Diversity, Inklusion, Chancengleichheit – Überlegungen zu einem gesellschaftlichen Minenfeld.

Alle sollen alles lernen können, lautete die emphatische Forderung der Aufklärer. Alle sollen überall teilhaben können, sagen Inklusionsbefürworterinnen und -befürworter.

Doch an den Inklusionsbemühungen und Inklusionsforderungen für und von Minderheiten gibt es seit Jahren eine starke rechte Kritik. Sie beschwört den Geist der Masslosigkeit, der unverschämten Anspruchshaltung und der drohenden «Diktatur der Minderheiten». Damit macht sie einzelne und ganz unterschiedliche Forderungen zum Massenphänomen, degradiert Rechte zu Ansprüchen und bezeichnet Partizipation als Herrschaftsform. Und hat die Rechte den Boden einmal auf diese Weise mit Verallgemeinerungen und Abstraktionen gedüngt, kann sie locker alles angreifen und blockieren, ohne konkret gegen jemanden Stellung beziehen zu müssen.

Die rechte Kritik stellt gerne Fragen wie: «Sollen alle alles können dürfen?». Oder: «Sind wirklich alle Zugangsbeschränkungen diskriminierend?», oder: «Wächst nicht gerade an Hindernissen auch die Kreativität?» So berechtigt solche Fragen heute in einigen Kontexten sein mögen, so zynisch sind sie, wenn sie sich nicht an jene richten, die alles können und nur das Eine nicht, sondern an jene, denen aufgrund von Armut, Beeinträchtigung, Geschlecht usw. vieles verwehrt ist.

Eine zweite Kritikebene erinnert angesichts der Forderungen nach Verbesserung von eher kleineren Dingen (wie öffentliche Zugänge und Partizipation) an das Stagnieren und die Verschlechterung bei den grossen Themen, etwa den Abbau von Nischenstellen im ersten Arbeitsmarkt oder den Druck auf die Renten. Auch diese Kritik ist nur berechtigt, wo es direkte Zusammenhänge zwischen Ausbau hier und Abbau da gibt, zum Beispiel zwischen Rentenkürzungen und mehr Rollstuhlliften oder zwischen Lohnkürzungen bei staatlichen Dienststellen und Diversity-Bemühungen in der Verwaltung. Weil der Nachweis für solche Zusammenhänge meist schwierig sein dürfte, kehrt sich auch diese Kritik in der Tendenz gegen jene, für die einzutreten sie vorgibt. (Eine Ausnahme dabei ist die Integration von Sonderschülern in die Regelklassen. Hier ist das Sparpotential bei der Auflösung von Sonderklassen eine zu grosse Versuchung für die Verwaltungen, als dass sie nicht im Zweifelsfall davon Gebrauch machen würden und damit die Inklusionsprozesse auch zu versteckten Sparprozessen machen.)

Trotzdem ist es nützlich, in Diskursen, die auf den ersten und zweiten Blick nichts als vernünftig und gut sind, auch eine Position ausserhalb zu suchen, von der sich eine Bewertung vornehmen lässt. Eine solche Position einnehmen kann, wer neben den Mängeln alter Integrations- und Inklusionskonzepte auch sieht, für wen sie welche positiven Effekte hatten, um von daher die blinden Flecken des Neuen zu benennen. Die hier vorgetragenen Überlegungen sprechen keineswegs gegen die Bemühungen um Inklusion und schon gar nicht gegen das Recht der einzelnen auf die Teilhabe an ihnen verwehrten Bereichen. Sie weisen nur auf die Binsenwahrheit hin, dass mit der Behebung der einen Probleme andernorts wieder andere entstehen können. Was ich hier nenne, ist kaum etwas Neues – im besten Fall könnte es dazu dienen, die zum Teil stark aufgeladenen Diskussionen um Inklusion und Identität etwas entspannter zu sehen.

Die Konstruktion von Behinderung

Zu erinnern ist zum Beispiel an die Konstruktion der Lernbehinderten vor circa 50 Jahren, die vor allem als eine Reaktion auf die Wegrationalisierung einfacher, wiederholender Tätigkeiten im ersten Arbeitsmarkt und auf die Straffung der Schulbildung gedeutet werden muss. Die zunehmende Desintegration von leistungsschwachen Menschen in der modernisierten Bildungs- und Arbeitswelt schuf einen neuen Behindertentypus, der später durch Inklusionsbemühungen wieder eingegliedert werden musste. Dieses Beispiel gibt uns einen Hinweis darauf, dass wir es nicht immer mit einer linearen Bewegung von der Exklusion zur Integration zu tun haben, sondern dass dieser Prozess auch heute noch umgekehrt verlaufen kann.

Zweitens zeigten bereits erste Untersuchungen bei Kindern mit kognitiven Beeinträchtigungen, die in sogenannte Regelklassen integriert wurden, dass zwar ihre schulische Leistung nach oben zeigt, dafür ihr Selbstwertgefühl oft nach unten. Ein ambivalentes Ergebnis also, das weder eindeutig für noch eindeutig gegen Inklusion spricht, sondern eher dafür, dass man den Einzelfall betrachten muss.

Wo drittens die Berufswelt in den Nachkriegsjahren systematisch Frauen und ausländische Arbeitnehmende benachteiligte, waren die Profiteure die einheimischen Männer, manchmal auch schlechter qualifizierte, unfähigere, als es für eine bestimmte Stelle gebraucht hätte, also viele, die nur zu diesen Jobs gekommen sind, weil sie zur Gruppe der quotenberechtigten, autochthonen Patriarchen gehörten. Die neue, zweifellos vielfältigere und kompetentere Berufswelt macht einige von ihnen zu Verlierern. Auch dieses Beispiel zeigt nichts anderes, als dass jedes System Prioritäten und Kriterien setzt, die gewisse Gruppen benachteiligen. Das neue System der Diversity setzt statt auf Herkunft oder Geschlecht auf Leistung und auf alle dafür relevanten Skills, auf Eigenschaften wie Bildungsabschlüsse, Berufserfahrung, Auslanderfahrung, Unabhängigkeit, Jugend usw.

Sehr diverse Individuen

Der Migrationsforscher Mark Terkessidis hat in den Nullerjahren mit seinem Buch Interkultur die Diversity-Debatte im deutschen Sprachraum geprägt und sich mit der Forderung nach Anpassung der Personalbestände in Verwaltungen und öffentlichen Institutionen an die Vielfalt der Bevölkerung grosse Verdienste erworben.

Er schreibt: «Das Prinzip Diversity hat zwei für die Strukturveränderung entscheidende Stossrichtungen. Zum einen zielt das Konzept auf die Institutionen selbst, die verändert werden sollen, und nicht auf die Personen, die in diesen Institutionen nicht der Norm entsprechen. Zum anderen stehen nicht bestimmte Gruppen im Zentrum des Konzeptes, sondern das Individuum. Es geht eben nicht um die Türken, die Behinderten, die Leute über 65 oder andere. Im Zentrum steht das Individuum in dem Sinne, dass dieses sein Potenzial ausschöpfen möchte und auch soll, durchaus im Sinne des Nutzens für die Institution, etwa bei Unternehmen. Das Prinzip Diversity soll dafür sorgen, dass das Individuum seine Möglichkeiten auch tatsächlich ausschöpfen kann. Und dafür müssen Barrieren beiseite geräumt werden, damit alle die gleichen Chancen haben, ihr Potenzial zu nutzen. Und diese Barrieren sind strukturelle.»

Die Bedeutung dieses Konzepts für eine globalisierte, offene Gesellschaft liegt auf der Hand. Aber auch hier kann man zurückfragen: Was ist denn mit jenen vielen, die gar keine Potentiale haben, die irgendwo besonders gebraucht würden? Die vielleicht daher froh wären, sie würden nicht nur als einzelne Individuen, sondern auch als Mitglieder einer Gruppe gelten und könnten insofern auf eine Lobby hoffen, ein Netzwerk, das sich um sie kümmert. (Beispielsweise kann man beobachten, wie schnell sich mit dem Wandel des Berufsbilds der Heilpädagogin/des Heilpädagogen durch die Dekonstruktion der Gruppe der «behinderten Kinder» und die Einführung der Inklusionsklassen auch die enge Bindung an «ihre» Kinder löst und damit auch der Antrieb, sich für diese bestimmte Gruppe anwaltschaftlich einzusetzen, da es diese Gruppe ja so gar nicht mehr gibt.) Denn der Starke hilft sich gern allein, die Schwachen müssen viele sein. Und man sieht, dass es auch hier wieder zu Favorisierungen von bestimmten Gruppen gegenüber anderen kommen kann.

Die falschen Versprechungen der «Chancengesellschaft»

Die enge Bindung des Gerechtigkeitsbegriffs an den Begriff der Chancen, wie sie etwa in den Bildungs- und Genderdiskursen über die Chancengleichheit geknüpft wurde, erweist sich heute als besonders problematisch. Wenn Gerechtigkeit sich nicht mehr an realen Gütern misst, sondern nur noch an Chancen und Potenzialen, bleibt für jene, die ihre Chance nicht nutzen konnten, nichts übrig. Sie sind dann nicht einmal mehr Opfer einer ungerechten Welt, sondern einfach nur noch Verlierer. Besonders schlimm ist es für jene, denen nachgewiesen oder unterstellt werden kann, dass sie eine Chance durch Eigenverschulden nicht genutzt haben. Sie tragen die ganze Schuld einer sich frei von aller Moral wähnenden Chancengesellschaft. Um nicht akzeptieren zu müssen, dass die Chancengesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen an vielen Orten einfach nur eine harte Konkurrenzgesellschaft ist, die viele Verlierer produziert, zeigt sie zudem die Tendenz, den Akzent auf das Eigenverschulden der Verlierer zu legen.

So haben wir es schliesslich mit dem Paradox zu tun, dass die für alle offene Inklusionsgesellschaft auch umschlagen kann in ein geschlossenes System, in dem das von allen geforderte Verhalten die permanente Leistungsbereitschaft bzw. der unbedingte Wille zur Ergreifung der sich bietenden Möglichkeiten ist.

Festmachen lässt sich diese Schliessungstendenz sehr gut am Umstand, dass neben den Inklusionsbemühungen die frei gewählte Option, irgendwo nicht mitzumachen, immer mehr aus dem Blick gerät. So gehen die meisten Reflexionen über Phänomene der Exklusion wie selbstverständlich davon aus, dass diese immer ein gewaltsamer Vorgang gegen den Willen der Betroffenen sei. Dies gilt vor allem für die geläufigen Analysen von Ungleichheiten in Bildungsprozessen. Der Soziologe Johannes Weiss vermutet darin eine zugrunde liegende Neigung, «Inklusion generell für gut, Exklusion generell für schlecht zu halten», und dass «der Eigensinn und die Handlungsmacht der Betroffenen generell unterschätzt werden.»

Denn die Menschen sind eben meist kompliziertere Wesen, als es auf den ersten Blick scheint. So wie dem Ausschluss durch andere ein Wille zur Selbstinklusion entgegenstehen kann, so kann es umgekehrt auch den institutionalisierten Versuch der Fremdinklusion geben, der mit dem Bestreben nach Selbstausschluss kontrastiert, oder es kann auf Fremdexklusion mit Selbstexklusion geantwortet werden. Und wenn es auch richtig ist, einen grundsätzlichen Inklusionswunsch bei den meisten Menschen zu unterstellen, wäre es doch verfehlt, in den Praktiken der Selbstexklusion nur Leid und Tristesse zu vermuten, vor allem wenn man die vorherrschenden, zum Teil sehr fordernden Inklusionsangebote kritisch unter die Lupe nimmt.

Kein Platz für Eigensinn und Sonderwege

Vielmehr sollte auch immer mit dem Spass am Widerstand – um einen soziologischen Klassiker von Paul Willis aus den 70er-Jahren zu zitieren – gerechnet werden. Wobei leider dieser Spass einen schweren Stand hat angesichts einer Arbeitswelt, die mehr und mehr auf standardisierte Lebensläufe und Zertifikate setzt. Der Fokus auf die ökonomische Nützlichkeit der Teamfähigkeit setzt Eigensinn und Sonderwege zusehends ins Abseits – durchaus auch wieder mit moralischem Akzent. Und die oft zynische Forderung nach Integrationswilligkeit, die an Migrantinnen und Migranten ergeht, erscheint aus dieser Perspektive nur als Facette einer allumfassenden Forderung an alle. Beispielsweise führen Bemühungen des Schulamtes, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit der flächendeckenden Einführung von Tagesbetreuungen und Tagesschulen nach Kräften zu fördern, schnell zum öffentlichen Vorwurf an jene Eltern, die ihre Kinder weiterhin nach der Schule zu Hause betreuen wollen, sie würden sie um die Erfahrung des sozialen Lernens betrügen und zu unflexiblen, weltfremden Eigenbrötlern erziehen. Mit dem fatalen Ergebnis, dass sich heute diese wie jene Familienmodelle dem Vorwurf der Rabenelternschaft ausgesetzt sehen.

Nun wissen zwar die meisten, dass eine liberale Gesellschaft spätestens dann eine schliessende Gesellschaft ist, wenn ihre Angebote zur Partizipation nicht ohne Stigmatisierung zurückgewiesen oder ignoriert werden können. Hingegen bleibt das tiefere Grundproblem einer liberalen Gesellschaft immer öfter unreflektiert: dass der vermeintlich freiheitliche Fokus auf den gerechten Zugang zu Angeboten und Chancen den Ausschlusscharakter der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft nicht abzuschütteln vermag, und dass man unter diesen Vorzeichen auch der Biologie als Ausschlussfaktor nicht entkommt. Nach Geschlecht und Hautfarbe rücken in einer forcierten Chancengesellschaft mehr und mehr wieder Begabung und Alter in den Vordergrund. Und dies, obwohl diese zwei Kategorien spätestens seit den 70er-Jahren gründlich kritisiert und dekonstruiert schienen. Was wiederum darauf hinweisen könnte, dass die Dekonstruktion allein keine hinlängliche Waffe ist.

Der französische Soziologe Geoffroy de Lagasnerie sagte kürzlich in einem Interview in der Zeitschrift «Spex»: «Angeblich haben wir Schulen, um die Besten auszulesen, aber in Wahrheit sind die Schulen dazu da, die unteren Klassen auszugrenzen.» Leider ist diese These auch nach 40 Jahren Chancengleichheitspolitik noch immer ziemlich richtig. Aber, so müsste man heute zwingend ergänzen: Dass die Schulen wirklich nur dazu da wären, die Besten auszuwählen, kann auch niemand, der an einer gerechten und menschlicheren Welt interessiert ist, wirklich wollen.

Rolf Bossart, 1970, ist Publizist und Theologe in St.Gallen. Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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