, 2. Oktober 2018
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Zur Not mit Flaschenzug

Felicitas Gadient dirigiert den Kammerchor Wil im Rollstuhl. Ihre Rezepte heissen Humor und Gelassenheit. Hier das Porträt aus dem Saiten-Oktoberheft. Von Bettina Kugler

Felicitas Gadient. (Bild: pd)

Bahnhof Gossau, ein Mittwochnachmittag. In wenigen Minuten wird der Interregio aus St. Gallen in Richtung Zürich auf Gleis 4 eintreffen. Der Mobi-Helfer wartet schon auf dem Perron, um Felicitas Gadient den Einstieg zu ermöglichen. Das «gäli Wägeli» steht für die Rollstuhlfahrerin bereit, ihr Vater ist mit zum Bahnhof gekommen. So geht es leichter die Rampe hinauf, und es bleibt noch etwas Zeit zum Plaudern. «Es genügt, mindestens eine Stunde vor der Abfahrt bei der Handicap-Telefonzentrale der SBB in Brig anzurufen», sagt sie; «dann kann ich mich darauf verlassen, dass jemand da ist und alles klappt.»

Hilfe wird ihr überraschend häufig auch von Mitreisenden angeboten. «Oft sind es Leute, denen man es auf den ersten Blick nicht zutrauen würde, von denen man denkt, sie seien mit sich selbst beschäftigt. Junge zum Beispiel.» Barrieren, so die Erfahrung der pendelnden Berufsmusikerin, mache man sich oft selber. «Wenn ich verdrossen schauen würde oder hässig, dann würde das sicher abschrecken.» Aber das ist ohnehin nicht ihre Art. Offen und freundlich geht sie auf andere zu. Nicht nur den Mobi-Helfer am Bahnhof Gossau freut es.

«Man findet immer eine Lösung»

Seit mehr als zehn Jahren ist Felicitas Gadient im Rollstuhl unterwegs, häufig und regelmässig mit der Bahn – und hat mit ihrer «eingeschränkten Mobilität», wie es nicht nur im ÖV technisch heisst, kein Problem. Gerade durch ihr Handicap hat die 44-Jährige Gelassenheit und Geduld gelernt. Eine Frage der Gewöhnung, sagt sie. «Ich habe gelernt, sorgfältig zu planen und vorauszudenken. Und ich habe mir abgewöhnt, mich über allfällige Barrieren aufzuregen.» Das verbrauche nur unnötig Energie – die sie als Chor- und Orchesterleiterin lieber für die Musik einsetzt. «Wenn ich mal einen Zug verpasse, dann ist es eben so. Man findet immer eine Lösung.» Dass sie schon vor ihrer Erkrankung eine vertrauensvolle, zuversichtliche Lebenseinstellung hatte, hat ihr diesen Lernprozess erleichtert.

Heute ist sie auf dem Heimweg nach Wettingen; tags zuvor hat sie wie jeden Dienstagabend die Probe des Kammerchors Wil geleitet und anschliessend bei den Eltern in Gossau übernachtet. Die Flyer für das nächste Konzert Anfang November sind schon gedruckt. Werke des St. Galler Komponisten Paul Huber stehen im Gedenken an dessen 100. Geburtstag auf dem Programm, zudem die Uraufführung von Wolfgang Siebers Wiler Sunntig: für Felicitas Gadient eine besondere logistische Herausforderung, zumal in der keineswegs barrierefreien Stadtkirche St. Nikolaus in Wil.

«Der erste Teil wird vorn im Chorraum gesungen, dann kommt ein kurzes Zwischenspiel, und währenddessen sollten wir hoch auf die Empore», sagt sie. Noch ist nicht klar, ob sie das so schnell schaffen wird. «Ihr werdet mich mit einem Flaschenzug hochziehen müssen», hat sie im Chor gescherzt, «oder ich brauche ein Katapult.» Humor, so ihre Erfahrung, hilft wesentlich im Umgang mit körperlichen Einschränkungen und mit Barrieren. Ihre Sängerinnen und Sänger des Kammerchors Wil haben sich längst an die Dirigentin im Rollstuhl gewöhnt. So sehr, dass sich beim Proben vertraute Muster eingeschlichen haben: etwa, dass zu sehr in die Noten geschaut wird und zu wenig nach vorn zu Felicitas Gadient. Ein Stück Normalität – auch das kann Barrierefreiheit sein.

Die Krankheit kam über Nacht

2007 erkrankte die gebürtige Gossauerin an einer MS-ähnlichen Lähmung im Gehirn und Rückenmark. Plötzlich funktionierte ihr Körper nicht mehr wie gewohnt. Die Lähmung schritt innert kurzer Zeit so weit voran, dass sie weder laufen noch frei sitzen konnte. Die kognitiven Fähigkeiten waren zeitweilig stark eingeschränkt; logisches Denken fiel ihr schwer, an vertraute Begriffe konnte sie sich nicht mehr erinnern. Nach zwei Monaten im Spital und vier weiteren in der Rehaklinik musste Felicitas Gadient ihren zuvor reichen Wortschatz, ihr Wissen in Theorie und Musikgeschichte, das Singen und Klavierspielen mit Geduld und Ausdauer neu lernen und für sich zurückerobern. «Etwa ein Jahr lang war völlig unsicher, wohin es mit mir gehen würde», erinnert sie sich. «Ich war wieder wie ein Kind.» Als ernüchternd erlebte sie die Beratungsgespräche der IV über Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung. «Man sagte mir: Vielleicht können Sie noch im Service arbeiten.» Heute kann sie darüber lachen. Das Kämpfen hat sie nicht hart und verbissen gemacht, sondern ruhig: grosszügig mit sich und anderen. «Ich schaue nicht auf das, was nicht geht, sondern auf das, was gelingt. Es ist eine Frage der Einstellung.» Ihr Weltbild habe sich geändert: Es sei durch die körperlichen Einschränkungen und die mit der Krankheit verbundene Sinnsuche wesentlich offener geworden, sagt Felicitas Gadient.

Anfangs hätte sie nicht zu träumen gewagt, jemals wieder einen Chor oder ein Orchester zu leiten. Doch sie bekam die Chance, es anzupacken, es im Rollstuhl auszuprobieren. Erst übernahm sie nach einer längeren Pause beim Kammerchor Wil wieder das Einsingen und die Stimmbildung, dann die Hälfte der Proben. Um schliesslich ganz wiedereinzusteigen, in voller Verantwortung. «Es war wie ein Praktikum», sagt sie, dankbar für die vielfältige Unterstützung – auch in praktischen Dingen. So liess der Chor eigens ein Bühnenpodest bauen, um seine sitzende Dirigentin besser zu sehen. Mitglieder ihres langjährigen Orchesters, der sinfonia.baden, holten sie ab, machten Fahrdienste. Letztes Jahr gab sie die Leitung des Orchesters ab; Stress steckt sie nicht mehr so leicht weg wie früher.

Eine Barriere namens Angstmacherei

Die optimistische Grundhaltung aber erleichtert ihr Leben im Alltag enorm. Und sie hat ihr geholfen, die Krankheit anzunehmen, in Zeiten grösster Unsicherheit nicht mit dem Schicksal zu hadern. «Ich habe mich immer getragen gefühlt. Zum einen durch meine Familie, meine Freunde, meinen Partner. Zum anderen durch den Glauben an eine höhere Macht. Das hat mir Kraft gegeben.» Sie habe sich nie als Opfer empfunden, «auch nicht, als mir zeitweilig die Kontrolle über meinen Geist verloren ging. Da lernte ich, mich leiten zu lassen.» Um diese Erfahrung weiterzugeben und Menschen in Krisen zu unterstützen, hat sie im vergangenen Jahr eine Coaching-Ausbildung gemacht. Demnächst wird sie noch eine weitere in Spiritual Care absolvieren, einem Studiengang an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.

Konzerte: 3. November, 19.30 Uhr, Hofkirche Luzern und 4. November, 17 Uhr, Stadtkirche Wil.
kammerchorwil.ch

«Die grössten Barrieren haben wir im Kopf», findet Felicitas Gadient, «sei es durch Erziehung, schlechte Erfahrungen und Prägungen oder durch gesellschaftliche Normen. Diese unsichtbaren Barrieren können sehr hinderlich sein.» Umso kritischer beobachtet sie die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. «Da werden durch Angstmacherei unglaubliche Barrieren künstlich aufgestellt, und das wird dann mit politischem Kalkül ausgenutzt. Man sieht nicht den einzelnen Menschen, es fehlt an gegenseitigem Respekt. Dabei wäre es so einfach, wenn jeder seinen Mitmenschen so behandeln würde, wie er selbst behandelt werden will.» Die Folgen solcher künstlicher Schwellen jedenfalls machen ihr eher Sorge als der nächste Zug nach Wettingen. Und ein barrierefreier Weg von A nach B.

Bettina Kugler, 1970, ist Journalistin beim «St.Galler Tagblatt».

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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