, 15. März 2018
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Roadtrip unter Terrorverdacht

In der Konstanzer Spiegelhalle läuft derzeit das Jugendstück «Ich rufe meine Brüder» von Jonas Hassen Khemiri. Wenn man sich mit der Entstehung des Stückes beschäftigt, wird die Auswirkung von Vorverurteilungen und Generalverdächtigungen deutlich. Ohne das Programmheft gelesen zu haben, verlässt man das Stück aber mehr verwirrt als betroffen.

Arlen Konietz als Amor. (Bilder: Ilja Mess)

Jean-Paul Sartre beschreibt in seiner Analyse des Blicks folgende Situation: Jemand beobachtet durch ein Schlüsselloch ein Paar beim sexuellen Akt und wähnt sich dabei unbeobachtet, bis er Schritte hört. Er fühlt sich ertappt, durch den Blick eines anderen getroffen und begreift sich erst in diesem Moment selbst als das, was er ist: als Voyeur.

Was Sartre mit dieser Szene zeigen will, ist, dass der Andere uns durch seine Wahrnehmung zum Objekt macht und das Verhältnis zum eigenen Ich verändert. Der Andere bestimmt mit seinem Urteil (oder zumindest dem Urteil, das wir ihm vermeintlich zuschreiben) über unser Selbst und damit auch über unsere Freiheit: «Das Auftauchen des Anderen trifft das Für-sich mitten ins Herz.»

Liebeskummer statt Tagträumerei

Dieses Gedankenspiel wird im Stück Ich rufe meine Brüder facettenreich dargestellt. Gezeigt wird Amor, ein junger Mann mit den ganz normalen Problemen des Lebens. Er ist unglücklich verliebt in ein Mädchen, das ihn mag, «aber halt nicht so». Ein Satz wie ein Messerstich, eine Seifenblase platzt, anstelle von Tagträumerei tritt Liebeskummer.

Amors beste Kumpel ist zu nichts zu gebrauchen, er nervt mit seiner neuen Paparolle, schließlich hat er aber auch das schönste und schlauste Baby, das als Highlight des Tages Banane isst. Die Cousine geht Amor ebenfalls auf die Nerven mit ihren ständigen Bitten um einen Gefallen und ihrem Open-minded-Yoga-Gelabere.

Das alles aber gerät über Nacht in den Hintergrund: Amor rückt in den Blick der Anderen – der Gesellschaft. Ein Terroranschlag, verübt mit einem LKW, verändert die allgemeine Wahrnehmung. Amor ist nun potentieller Täter und fühlt sich verfolgt. Es beginnt eine Reise durch die Nacht und die Erlebenswelt Amors, die Paranoia tickt.

Nach dem Anschlag ist Vorsicht geboten. Ein Gedankenspiel fragt: Wie kleidet man sich unauffällig? Aber nicht zu unauffällig, denn das wäre ja schon wieder auffällig. Wie bewegt man sich möglichst normal? Wie kann man untertauchen in der breiten Masse, unsichtbar werden? Oder ist gerade das der falsche Weg? Ist es besser möglichst grell und schrill und bunt und laut zu sein? Jemand mit Glitzerfarbe im Gesicht und bunten Turnschuhen ist wohl kaum terrorverdächtig! Muss man sich also möglichst idiotisch benehmen, mit Megafonen durch die Strassen ziehen, um den Blick der Anderen wegzurücken vom LKW-Attentat?

Tolle Figuren, super Bühnenbild – Message bleibt aus

Alles dreht und wendet sich um diesen LKW, der fast die gesamte Bühne einnimmt und sich als wahre Wunderbox entpuppt. Darin enthalten sind eine Disko, ein Wohnzimmer, eine Wurstbude, und er wird auch mal zum PKW, der zum Roadtrip einlädt. Das reinste Allzweckfahrzeug also, das man am liebsten mitnehmen würde – immerhin wäre man damit für alle Eventualitäten des Lebens gerüstet (entworfen und umgesetzt wurde das Wahnsinnsteil von Christine Bertl).

Ich rufe meine Brüder:
bis 13. April, Spiegelhalle Konstanz
theaterkonstanz.de

Stefan Eberle führt Regie in diesem Stück und kreiert mit den drei Schauspielern Arlen Konietz, Laura Lippmann und Thomas Fritz Jung wunderbare Figuren. Letztgenannte springen zwischen verschiedenen Rollen, die in lässigen Kostümen die einzelnen Charaktere schnell und deutlich konturieren. Konietz bleibt das ganze Stück über Amor (Warum eigentlich diese Namenswahl? Der spitzbübische Liebesengel hat mit dieser Figur so gar nichts am Hut…) und zeigt sehr eindrücklich, wie sich die Gedanken und das Handeln unter den Blicken der anderen verwandeln.

Nicht klar wird hingegen die Hauptmessage des Stücks. Jonas Hassen Khemiri, der Autor, hat sich nach einem LKW-Terroranschlag vor Jahren in Stockholm mit einem Brief an die Schwedische Justizministerin gewandt. Er, als Halbtunesier, forderte sie auf, die Körper zu tauschen und auch die jeweiligen Erfahrungen, von denen einige am Ende des Stücks auf der Leinwand erscheinen: wie es ist, aufgrund des Aussehenes verdächtigt zu werden, bei jeder Passkontrolle, beim Betreten eines Plattenladens oder in der Schule.

«Ich checks nicht»

Dass die Merkmale für diesen Generalverdacht wandelbar sind und heute auf arabisch aussehende Personen zutreffen, morgen aber schon jeden anderen Stereotyp meinen könnten, will Eberle mit den drei Schauspielern verdeutlichen, die eben nicht dem aktuellen «Feindbild» entsprechen. Das führt aber im Stück selbst zu Verwirrungen, ebenso wie der Schauplatz LKW, der eingangs nicht als Terroranschlag deklariert wird, sondern erst so nach und nach aufgeklärt wird, was eigentlich passiert ist.

Das ist schade, denn die meisten Jugendlichen verlassen die Inszenierung an diesem Vormittag mit grossen Fragezeichen in ihren Gesichtern. Einer fragt vor den Toren der Konstanzer Spiegelhalle: «Warum war da eigentlich ein LKW auf der Bühne? Ich checks nicht.» Da gibt es für die begleitenden Lehrkräfte wohl noch ein wenig Interpretationsbedarf!

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