, 9. März 2016
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Lara Croft mit Pfeil und Bogen

Stecken wir in einer neuen Renaissance? Sind die Monster entfesselt, wenn der kulturelle Denkraum die Besonnenheit verliert? Solche Fragen tauchten bei den Vorträgen zur Ausstellung des Mnemosyne Bilderatlas von Aby Warburg im St.Galler Kulturraum am Klosterplatz auf.

Der Bilderatlas des Hamburger Kulturwissenschaftlers Aby Warburg war schon vor zwei Jahren Anlass zu einer Ausstellung im Kulturraum des Kantons am Klosterplatz. Jetzt ist Teil zwei zu sehen und bestätigt den Ruf des Atlas als Schatzkammer des visuellen Erbes unsere Zeit.

Grenzen existierten für ihn nicht

Die Bildtafeln untersuchen das kulturelle Gedächtnis zwar vor allem Europas, wenn es nach Warburg gegangen wäre: der ganzen Welt. Grenzen in der Kultur existierten für ihn nicht, er mochte nicht zwischen verschiedenen Kulturen unterscheiden, sein Denken bewegte sich jenseits von Raum und Zeit. Jedoch hatte sein Forscherleben für die Erfüllung dieses Anspruches nicht gereicht.

Aby Warburgs Interesse galt weniger den Highlights der Kunst. Wonach er forschte, war im Unscheinbaren verborgen: in Haarlocken, Faltenwürfen, der Art des Schreitens oder in den Gesten einer Figur. Hier entdeckte er den Nachhall der Antike. Zum Beispiel das Rutenbündel mit Beil, wie es auch im St.Galler Kantonswappen vorkommt: Damit beschäftigte er sich anlässlich seiner Italienreisen von 1928/29 eingehend. Dem Bildzeichen aus der römischen Antike begegnete man damals als Parteiemblem der italienischen Faschisten auf Schritt und Tritt.

Mit der Co-Wissenschaftlerin Gertrude Bing, dem Bediensteten Franz Alber und einer Reisebibliothek samt Zettelkästen und Reprobildern im Umfang eines halben Eisenbahnwagons dehnte sich die ursprünglich auf drei Monate geplante Studienreise zur Erforschung der Renaissance auf fast ein Jahr aus. Eigentlich wäre Warburg lieber in die USA gereist, topmodern und bequem mit dem Zeppelin nach Lakehurst, dem Landeplatz in New Jersey, 100 Kilometer von New York entfernt, und hätte die Kultur der neuen Welt erforscht. Aber seine Brüder aus der Hamburger Bankierfamilie bewilligten dafür, seiner fragilen Gesundheit wegen, die Gelder nicht. Er war schwer herzkrank und starb am 26. Oktober 1929 63jährig an einem Herzinfarkt.

Seit über vier Jahren hat sich die Forschungsgruppe Mnemosyne Atlas des 8. Salons aus Hamburg St.Pauli mit der Deutung der insgesamt 79 Tafeln befasst. Die Ergebnisse publizierte sie laufend in den sogenannten Baustellenheften. So ist es mittlerweile auch für nicht fachkundige Interessierte möglich, die weitverzweigten Assoziationsketten Warburgs verstehen zu lernen.

Ausstellung bis 20. März 2016; Mittwoch bis Sonntag 12 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr, Kulturraum am Klosterplatz

Führung: Sonntag, 13. März, 16 Uhr

Arizona Highways – Lecture Performance von Matthias Gabi: Donnerstag, 10. März, 19 Uhr

Die St.Galler Ausstellung der rekonstruierten Tafeln 39 bis 79 ergänzen wertvolle Exponate aus dem Textilmuseum, die die Funktion von Textilien als Bilderfahrzeuge belegen, und künstlerische Interventionen. Zudem fand zum Auftakt ein Vortragsreihe statt.

Angst als Kulturtreibstoff

Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin an der Universität Konstanz, bezeichnet Warburg als ganz grossen Neuerer. Er schuf einen neuen Zugang zum Bild, indem er den Umständen, in denen es entstand, gleich viel Bedeutung zumass wie dem Bild selber. Jedes Bild ist eine Energiekonserve und enthält den Treibstoff der Kultur. Das Bild bannt den Urschrecken, indem es Bedrohungen und Angst formt, darstellt und entgiftet. Aber Warburg war ein Pessimist. Er war sich bewusst, dass die Kultur die Monster nur bannen, aber niemals wirklich überwinden kann. So findet ein ständiges Austarieren zwischen den rationalen, bindenden Kräften und dem Mythos, der die Monster entfesselt, statt.

Vor hundert Jahren, während des ersten Weltkrieges, geriet die Welt aus den Fugen. Die grossen Erzählungen fielen auseinander. Es gab nur noch Fragmente und Collagen. Warburg schaffte die Distanzwahrung zum Studienobjekt der Monster nicht mehr, und er musste sich in der Nervenheilanstalt von Ludwig Binswanger in Kreuzlingen behandeln lassen. Es gelang ihm aber die Selbstheilung durch den berühmten Vortrag über das Schlangenritual der Hopi-Indianer, den er auf Anregung Binswangers vor Anstaltspersonal und Patienten hielt.

Beim Bibliotheksneubau in Hamburg liess er in den Türsturz den lateinischen Spruch eingravieren PER MONSTRA AD SPHAERAM (über die Monster hinaus zu den Planetenkreisen). Im improvisierten Vortragsraum in der Mnemosyne Ausstellung ist ein wüster Silvesterklaus aus dem Appenzellerland aufgebaut als sprechendes Beispiel dafür, dass sich besonders in der Volkskultur archaische Kulturformen erhalten haben.

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Energetische Transformation im Theater

Dorothée Bauerle-Willert, Kunsthistorikerin und Dramaturgin am Vorarlberger Landestheater, befasste sich in den 1970er Jahren als eine der ersten mit dem damals weitgehend in Vergessenheit geratenen Mnemosyne Atlas Warburgs. Sie kommentierte diesen in der Promotionsschrift mit dem Titel Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene. Warburg interessierte sich sehr für das Theater, schrieb sogar selbst kurze Theaterstücke, die an Familienanlässen aufgeführt wurden. Die Herstellung von Natürlichkeit im Theater hatte es Warburg besonders angetan. Sie schafft eine Brücke von der Kunst zum Leben. Dorothée Bauerle-Willert definiert diesen Prozess so: Das Als-ob im Theater entsteht durch energetische Transformation von in Akkumulatoren gespeicherter Kraft, die auf der Bühne durch die Schauspieler unmittelbar wirksam wird.

Warburgs Interesse am Theater zeigt sich besonders in den Tafeln 61/62/63, die sich mit den Neptunspektakeln befassen, wie sie im 17.Jahrhundert in Form von Prunkumzügen inszeniert wurden. Allgemein stellt die Kennerin des Mnemosyne Atlas in den Tafeln eine Konfiguration von Kräften fest, die sich anziehen und abstossen. Bei der Anordnung der Bilder ging es Warburg um ein Werten, um Bewegung, Einbildungskraft und zwischenräumliche Polaritäten. Die Tafeln sind für Bauerle-Willert wie eine dunkle Kammer, ab und zu kommt durch die Bilder Licht hinein. Neue Impulse entstehen, latente Energie blitzt auf und transformiert die Welterfahrung der Betrachter.

Jenseits der Renaissance

Die italienische Kunsthistorikerin Giovanna Targia, derzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, wies auf die gegensätzlichen Positionen in der Kunstgeschichte am Anfang des 20.Jahrhundert hin. Es gab eine Auffassung, die die Kultur der Renaissance in Italien als primitiv empfand, während der unabhängige Norden den antikisierenden Süden überwunden habe. Rembrandt wurde instrumentalisiert, um die nationalistische Strömung zu untermauern.

Warburg sah dies anders. Für ihn gab es eine Geisteslandkarte, auf der die Bilder ohne Grenzen wanderten. Ausserdem befand sich der Ursprung für die Ablösung des Mittelalters durch eine neue Epoche, die dem Individuum gehörte, für ihn in Italien. Er konnte sich dabei auf den grossen Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818 – 1897) und dessen epochales Werk Die Kultur der Renaissance berufen.

Zudem vertrat Warburg nicht die Art von ästhetisierender Kunstgeschichte, die sich nur mit den Meisterwerken befasste und sich im Feststellen von Stilmerkmalen erschöpfte. Für ihn konnten weniger bedeutende Kunstwerke oder auch Möbelstücke unter Umständen kulturgeschichtlich aussagekräftiger sein.

Giovanna Targia erwähnte eine Arbeit des Kunsthistorikers und Philosophen Edgar Wind, Mitarbeiter im Warburg Institute London, zum Problem der Periodizität. Demnach unterliegt die kulturelle Entwicklung dem evolutionistischen Prinzip. In einem gewissen Rythmus schwingt das Pendel der kulturellen Pole hin und her, auf den Wellenberg folgt das Wellental.

In der anschliessenden Diskussion stellte Axel Heil die These auf, dass wir uns wieder mitten in einer neuen Renaissance befinden. Beweise gibt es genug: «archaische» TV-Serien wie Games of Thrones, ein Reboot der Computerspielheldin Lara Croft mit Pfeil und Bogen…

Warburg und die moderne Kunst

Axel Heil ist Künstler und Professor für experimentelle Transferverfahren am Zentrum für Kunst und Medientechnologie ZKM in Karlsruhe. Im Mnemosyne Atlas untersuchte Warburg wohl zeitgenössische Grafik von Briefmarken oder etwa der Duftmarke 4711; dagegen fand moderne Kunst keinen Eingang in den Atlas. Axel Heil ging nun der Frage nach, ob das Warburg Institut mit den bedeutenden Zeitschriften von zeitgenössischer Kunst in den 1920er Jahren, den Cahier d’Art und den documents aus Paris in Verbindung stand. Tatsächlich wurde er im Keller des Warburg Institute in London fündig (hier befindet es sich noch heute, nachdem die Hamburger Bibliothek 1932 noch rechtzeitig vor den Nazis evakuiert werden konnte). Beide Zeitschriften waren vom Institute abonniert worden.

In der Mitarbeiterliste der documents fand sich auch Fritz Saxl, nach Warburgs Tod Leiter des Institutes. Einen Beitrag Saxls suchte er vergebens in den gedruckten Ausgaben. In einem Briefwechsel kündigte dieser zwar einen Text für die Nummer 7 an. Diese erschien jedoch nicht. Nach 6 Ausgaben stellte die Zeitschrift das Erscheinen ein. Heil hofft nun bei weiterem Suchen auf das noch unveröffentlichte Manuskript zu stossen, das so etwas wie den «missing link» vom Warburg Institute zum modernen Kunstschaffen darstellt.

Bei seinen Recherchen zu den documents kam ihm Peter Kamm zu Hilfe. Kamm, der massgeblich am Zustandekommen der Mnemosyne Atlas Ausstellungen in St.Gallen beteiligt war, hatte die gesamten Ausgaben einmal antiquarisch erstanden. Der Bildhauer Kamm interessierte sich damals noch unabhängig von seinem Engagement für den 8. Salon und Warburg für den bereits auf dem Titelblatt angekündigten Mix von zeitgenössischem Kunstschaffen, Archäologie, Ethnografie und Doktrin der 20er Jahre der Kunstzeitschrift.

Für die Ausstellung im Kulturraum hat Peter Kamm mit den documents aus seiner Sammlung eine Vitrine gestaltet. Lochsteine aus Buntsandstein, die er hinzulegte, nehmen Bezug zum Themenspektrum der Zeitschrift. Es sind gewiss moderne Skulpturen, aber auch magische Objekte, die einen Dimensionenwechsel evozieren.

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Aby Warburg kam nicht mehr in die USA, wie er das vorhatte. Ob er sich, würde er heute leben, für diese Szene aus der Staffel 4 von Gossip Girl interessieren würde? Er hatte zum Bild von Edouard Manet, Dejeuner sur l’herbe, im Hintergrund geforscht.

Bilder: Jiri Makovec

 

 

 

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