, 14. Februar 2013
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Grüninger, gegenwärtig

Flüchtlingshelfer Paul Grüninger ist jetzt auch auf der Bühne angekommen: In der St.Galler Lokremise hatte das Jugendstück «Paul Grüninger – Ein Grenzgänger» Premiere. «Grüninger? Kei Ahnig», sagt eine Stimme. Und eine andere: «Da ghört doch scho lang zo de Vegangeheit.» Diese und andere Stimmen hat das Theater St.Gallen gesammelt und spielt sie am Anfang des […]

Flüchtlingshelfer Paul Grüninger ist jetzt auch auf der Bühne angekommen: In der St.Galler Lokremise hatte das Jugendstück «Paul Grüninger – Ein Grenzgänger» Premiere.

«Grüninger? Kei Ahnig», sagt eine Stimme. Und eine andere: «Da ghört doch scho lang zo de Vegangeheit.» Diese und andere Stimmen hat das Theater St.Gallen gesammelt und spielt sie am Anfang des Stücks in der Lokremise ein. Der Fall des St.Galler Polizeikommandanten und Flüchtlingshelfers, der 1940 entlassen und erst posthum 1995 rehabilitiert worden ist: Vergangenheit?

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Wie akut das Thema – die Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg – heute noch ist, zeigt die jüngste Diskussion: Ueli Maurer verklärt die Schweiz öffentlich zum Hort der Freiheit und des Rechts; der französische Nazijäger Serge Klarsfeld stellt den Bergier-Bericht in Frage und behauptet, es seien statt mehreren Zehntausend «nur» 3000 jüdische Flüchtlinge abgewiesen worden.

Ob da ein neuer Revisionismus auf uns zukommt, fragen wir Historiker Stefan Keller, der den Fall Grüninger als erster aufgearbeitet hat, in der Lokremise nach der Grüninger-Premiere. Eigentlich sei Klarsfeld ein verdienter und vernünftiger Historiker, meint Keller – und die Flüchtlingszahlen seien schon seit dem Bericht Ludwig 1957 bekannt. Aber die meisten Akten sind vernichtet, die wahren Zahlen werde man so wenig wissen, wie die genaue Zahl der von Grüninger Geretteten. «Aber auch 3000 in den Tod geschickte Flüchtlinge wären zu viele», sagt Keller. Wichtig sei das Einzelschicksal, nicht die Zahlenklauberei. Umgekehrt: «Jede Generation muss sich wieder ihr eigenes Bild der Geschichte machen. Dass das passiert und so emotional bleibt, zeigt, wie wenig vorbei die Vergangenheit ist.»

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Das trifft auch zu für das Stück von Elisabeth Gabriel und Nina Stazol. Es hält sich hart an die Fakten von damals, spielt mit alten Koffern, klapprigen Schreibmaschinen und kurligen Hosenträgern auch optisch in der Kriegszeit  – und schafft dennoch eine manchmal beklemmende Gegenwärtigkeit.

Nämlich genau damit: mit emotionalen Bildern. Plötzlich geht in der Bühnenmitte der Notausgang auf, draussen in der Kälte stehen Flüchtlinge mit schweren Koffern. Oder: Hinten werden Originalaufnahmen vom «Anschluss» Österreichs 1938 und von den Pogromen der «Reichskristallnacht» projiziert, vorn wüten Hakenkreuzler auf der Bühne. Und die stärkste Szene: In der Mitte stellt Grüninger seine vorschriftswidrigen Einreiseformulare aus, rund um ihn herum treibt ihn das Schreibmaschinen-Staccato der Bürokratie immer mehr in die Enge.  Ein Mann, am Ende allein mit seiner Überzeugung, «dass vor der Menschenpflicht die Paragraphen zurückstehen müssen.»

Zudem schlägt das Stück den Bogen bis zur Gegenwart: 1968, 1984, 1985, 1989, 1990, 1991, 1995 – das sind nur ein paar Stationen des Kampfs um die Rehabilitierung des Polizeihauptmanns, peinliche Stationen für die Kantonsregierung, die jetzt dafür mit Justizdirektor Fredy Fässler, Bauchef Willy Haag und Ex-Kulturdirektorin Kathrin Hilber, alle drei im Premierenpublikum, späte Abbitte leistet.

Und ganz gegenwärtig wirds  am Schluss; da prangt auf der Bühnenwand der Art.116 des heute gültigen Ausländergesetzes – einem Grüninger würde auch heute wieder der Prozess gemacht.

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Die Emotionalisierung hat auch ihre problematische Seite – Grüninger droht zum Star zu werden, fähnleinschwenkend feiert die Schauspielertruppe die Grüninger-Brücke, das Grüninger-Stadion und all die späten Ehrbezeugungen. Die gute Schweiz, verkörpert durch den Hauptmann, seine jüdischen St.Galler Mitstreiter wie Recha Sternbuch oder Saly Mayer und die munteren Rheintaler Flüchtlingsschlepper, und die böse Schweiz, personifiziert durch den Chef der Fremdenpolizei Heinrich Rothmund, stehen sich allzu schwarz-weiss gegenüber.

Am Schluss gabs eine Standing Ovation. Sie galt dem ausgezeichneten Ensemble um Matthias Albold in der Rolle Grüningers, aber mehr noch dem Titelhelden des Stücks. Es war ein starkes Symbol für die gerettete Ehre des Hauptmanns Grüninger – das aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass solche Bezeugungen uns heute leicht fallen, weil sie ohne Gewissensnöte «gratis» zu haben sind.

Hingegen ist klar: Auch Jugendliche (für sie ist das Stück gedacht) können künftig nicht mehr einfach sagen: «Grüninger? Kei Ahnig.»

Weitere Vorstellungen: www.theatersg.ch / Bilder: Tine Edel 

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