, 1. Mai 2015
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«Und wenn wir sie an den Ohren aus der Stube holen müssen…»

Tag der Arbeit in St.Gallen: dicke Regenwolken, Lichtblicke im Osten und erfreulich viel Klartext von den jungen Festrednern.

O bella, ciao! Bella, ciao! Bella, ciao, ciao, ciao! – die «Banda di San Gallo» liefert traditionellerweise den Soundtrack zum 1. Mai in selbigem. «Papi», fragte ein kleines Mädchen am Freitag in der Multergasse, «ist das die Fasnacht?» Er lachte, ging in die Knie und nahm seine Tochter in den Arm. «Nein, Liebes», erklärte er seelenruhig, mitten im Gewühl. «Das ist der 1. Mai-Umzug. Jedes Jahr am Tag der Arbeit geht die halbe Welt auf die Strasse, um die Arbeiterbewegung zu feiern, für Solidarität einzustehen.»

Regen und Realpolitik

Im Gegensatz zu anderen Kundgebungen, etwa auf dem Taksim-Platz in Istanbul, wo die Polizei Tränengas einsetze, verlief der St.Galler Umzug durchwegs friedlich. Und anders als im verschifften Zürich hatten die Teilnehmenden in der Ostschweiz – etwa zwei- bis dreihundert waren es laut Einschätzung der Polizei – ordentlich Wetterglück. Als sich der Zug kurz vor halb sechs am Bahnhofplatz gemächlich in Bewegung setzte, war zwar der Himmel unter den roten Bannern grau, aber die Stasse war trocken. Zu regnen begann es erst, als der Zug sich wie üblich einmal buchstäblich fast im Kreis gedreht hatte und beim Vadiandenkmal angelangt war. Dort hielten dieses Jahr die sanktgaller Gewerkschaftspräsidentin und SP-Nationalrätin Barbara Gysi, Beat Schenk von der Unia Jugend und Cenk Bulut vom demokratisch-kurdischen Gesellschaftszentrum St.Gallen die Festreden.

Gysi schloss einen Bogen von der internationalen zur nationalen Solidarität: «Es ist schrecklich, was an Europas Grenzen passiert». Ein Patentrezept zur Lösung dieser Katastrophe gebe es nicht, bedauerte sie, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft seien heute mehr denn je gefragt. «Wir müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen, und wir müssen viel mehr dafür tun, dass es gar nicht so weit kommt.» Nur wenn man bereit sei, den Wohlstand mit anderen zu teilen, werde sich grundlegend etwas ändern. Dasselbe gelte auch für die Schweiz. So forderte Gysi, mit Verweis auf die kantonalen und nationalen Abstimmungen am 14. Juni, unter anderem flächendeckende Gesamtarbeitsverträge für alle Branchen, gerechte Unternehmens- sowie Erbschaftssteuern und nicht zuletzt: gleiche Löhne für alle. Dabei möglicherweise etwas zu kurz gekommen: Lohngerechtigkeit beschränkt sich nicht auf Geschlechterfragen. Diese Forderung muss unabhängig davon auch für Status, Lebensform, Nationalität, Herkunft, Glaubenszugehörigkeit einer Person gelten.

Diese Krise zahlen wir nicht!

Etwas weniger realpolitisch, dafür umso beherzter, ging es bei Beat Schenk zur Sache. «Wer war es denn, der mit Finanzspekulation die Wirtschaft ins Wanken gebracht hat?», fragte der Thurgauer. «Wohl nicht die, die täglich acht oder mehr Stunden an der Werkbank, auf der Baustelle oder im Büro arbeiten». Doch ebenjene müssten die fatalen Folgen der neoliberalen Wirtschaftspolitik ausbaden, kritisierte er. Mit Arbeitszeiterhöhungen, Lohnausfällen oder Jobverlust – «während die Manager weiter fleissig Boni in Rekordhöhe abkassieren». Um derartige Auswüchse künftig zu verhindern, müsse man «fähige Vertreter aus den eigenen Reihen nach Bern schicken». «Die Stimmbeteiligung ist auf einem Rekordtief. Es liegt an uns, auch die Hinterletzen an die Urne zu bringen – und wenn wir sie an den Ohren aus der Stube holen müssen.»

Die Unternehmer seien nichts ohne die Werktätigen, setzte der 22-jährige Elektroinstallateur nach. «Ohne uns steht in diesem Land jede Maschine, jeder Motor still. Wir gehen Jahr für Jahr raus am 1. Mai, um das den Bonzen und Zockern hier und überall, immer und immer wieder, klar zu machen.» Entsprechend deutlich fiel dann auch Schenks Message an die Adresse der Wirtschaftselite aus: «Euer System ist an die Wand gefahren, eure neoliberale Religion nichts weiter als Götzendienst. Und eure Gewinne verdampfen mit den fallenden Börsenkursen. Eure Gier bedroht den Frieden in Europa, und der ständige Drang nach Wachstum fördert Kriege, Elend und Hunger weltweit. Diese Krise ist nicht unsere Krise, diese Krise zahlen wir nicht!»

Rojava: ein antikapitalistisches Experiment

Der 1. Mai sei auch ein internationaler Tag, erklärte Moderator Basil Oberholzer von den Jungen Grünen, als er schliesslich Cenk Bulut auf der Bühne begrüsste. Deshalb der kurze Blick auf die Widerstandsbewegungen in Syrien und im Irak. Neben dem Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) sei in den kurdischen Gebieten um Rojava auch eine gesellschaftliche Revolution im Gang, stellte Bulut gleich zu Beginn klar. «Dort besteht heute de facto eine autonome, basisdemokratische Gesellschaft, in der religiöse und ethnische Minderheiten fester Bestandteil der Regierung sind.» Rojava biete Jesiden, Christen und vielen anderen vom IS Verfolgten Zuflucht. Die Strukturen seien demokratisch und kommunal, die Ländereien in Kooperativen unterteilt und die Frauen, wohl auch dank der strikten 40-Prozent-Quote, mitunter die stärkste Antriebskraft dieser Revolution.

Es sei zwar nicht alles perfekt, erklärte Bulut, dennoch sei es seit Langem der ernsthafteste Versuch, eine antikapitalistische Gesellschaft aufzubauen. «Rojava ist ein Lichtblick. Nicht nur für den Nahen Osten, sondern für die ganze Welt.» Um sich gegen den IS zu verteidigen, sei man allerdings auf humanitäre und militärische Hilfe angewiesen – damit Rojava nicht «zum zweiten Spanien der antifaschistischen Linken» werde. Eine lebenswerte, wahrhaft emanzipatorische Gesellschaft dürfe niemanden ausgrenzen, forderte der Student und warnte anhand eines sehr zeitnahen Beispiels vor den Folgen, falls sie es doch tut: «Die soziale, religiöse und ethnische Ausgrenzung der Menschen in Europa führte dazu, dass tausende junge Menschen zum Islamischen Staat reisten. Sie sind der Beweis, dass Europa hinter den Idealen der Aufklärung zurückgeblieben ist – sie sind der Ausdruck unseres Versagens.»

 

 

Morgen Samstag, 2. Mai findet in St.Gallen bereits die nächste Kundgebung statt. «Smash little WEF» heisst es ab 14 Uhr am Bahnhofplatz, protestiert wird gegen das St.Gallen Symposium. Mehr dazu hier und hier.

 

 

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