, 7. Juli 2014
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«Entscheidend ist: Ab welchem Zeitpunkt wird wer verdrängt?»

Angelo Zehr, Co-Autor des Films «A Little Mountain Village», plädiert für eine städtische Kulturzone.

«A Little Mountain Village» – den Film über die kulturelle Situation in St.Gallen – hast Du zusammen mit Matthias Fässler gedreht. Was habt Ihr herausgefunden?

Wir zwei bewegen uns natürlich schon relativ lange in der Stadt, und deshalb sind die Überraschungseffekte nicht so riesig. Wir wollten aber auch bewusst ein breites Publikum ansprechen und sensibilisieren.

Sensibilisieren wofür?

Für Themen wie Stadt- und Quartierentwicklung. Aber auch dafür, zu sehen, wie unglaublich viel Einsatz und Herzblut hinter vielen Kulturorten steckt – das machen sich die Besucher oft nicht bewusst. Wenn einer wie Daniel Weder vom Kugl im Film sagt: Ohne die zwanzig, dreissig Leute, die hier freiwillig unentgeltlich arbeiten, wäre ein solcher Betrieb undenkbar… Das hat mich bewegt.

Die Botschaft lautet also: Es gibt viele Kultur-Orte, in denen tolle Arbeit geleistet wird …

… ja, St.Gallen hat für seine Grösse ein gutes Kulturangebot. Klar, das Stichwort Reithalle fällt auch im Film, ein Kulturraum dieser Grössenordnung fehlt, doch sonst betonen alle durchs Band, das Angebot sei gut – aber: Es ist nicht in Stein gemeisselt.

Was heisst das?

Klar ist ja, dass das Rümpeltum einen neuen Standort finden muss. Das Kugl ist in Gefahr, auch wenn sich für diesen Sommer eine Lösung abzeichnet. Und: Der Spardruck ist sicher in den nächsten Jahren weiter ein Thema. Bisher sind die Institutionen geschont worden, aber für Kleinanlässe ist weniger Geld da. Man muss auf der Hut sein.

Trotzdem entstehen immer wieder neue Orte. Was habt Ihr entdeckt?

Gute Frage… Wir haben nicht eigentlich Neues gesucht, sondern uns auf ein paar bekanntere Orte konzentriert: Grabenhalle, Palace, Kugl, Rümpeltum und als Exot das Backstage. Doch es kamen auch neue Orte zur Sprache: Tivoli, Theater 111, Buena Onda, Tankstell und andere. Man muss sich neue Räume erkämpfen, Orte, wo Unvorhergesehenes passiert. Es geht ja auch um den öffentlichen Raum und die Frage, wer wo was machen darf und ob es wirklich für alles eine Bewilligung braucht.

In Winterthur gab es Krawalle, Bern hat sich «freigetanzt», explizit ohne Bewilligung. Was ist in St.Gallen los, dass hier nichts los ist?

Ich glaube, die Themen sind überall die gleichen. Womöglich ist in St.Gallen der Leidensdruck kleiner. Wenn man an den Polizeieinsatz jüngst in der Berner Reithalle denkt, als die Polizei bewaffnet in die Küche eindrang: So etwas ist hier noch nicht vorgekommen. Man darf die Wegweisungen aber nicht vergessen, ein Thema, das im Film auch angeschnitten wird. Dass ein Grundrecht wie das Aufenthaltsrecht völlig eingeschränkt wird, das darf nicht sein.

Insgesamt überwiegt im Film aber das Positive.

Der Film will keine simple Botschaft haben, sondern ein Stück Bewusstseinsarbeit leisten, vor allem auch in Bezug auf die Gentrifizierungs-Prozesse in der Stadt. Ich wohne im Linsebühl. Dort ist es wichtig, die Entwicklung genau zu beobachten und zu reagieren, wenn die Verdrängung einsetzt. Im Film zeigen wir das Thema der Verdrängung, Ökonomisierung, Aufwertung am Beispielmdes Gebiets Bahnhof Nord. Vorher gab es günstigen Wohnraum, es war viel Leben im Quartier, und jetzt ist es einfach tot.

Wie schätzt Du die Situation im Linsebühl ein?

Die entscheidende Frage ist immer: Ab welchem Zeitpunkt wird wer verdrängt? Solange es ein gutes Nebeneinander gibt, ist das Problem weniger da. Eine gewisse Verteuerung hat im Linsebühl schon stattgefunden. Aber der Umbruch ist langsam, man sieht ihn nicht so direkt wie am Bahnhof.

Orte wie das Kugl oder die Buena Onda sind durch Lärmklagen bedroht. Lärm: Das ist vermutlich eins der brennenden Stadt-Probleme?

Auf jeden Fall. Erlaubt sind in diesen Zonen «mässig störende Betriebe», und die Frage ist dann immer: Was ist mässig, was übermässig? Das sind Gesetze auf Bundesebene, entsprechend schwierig ist es, lokal anzusetzen. Irgendwann werden sich die Städte untereinander vernetzen müssen, um klar zu machen: Die Gesetze sind nicht mehr zeitgemäss für ein heutiges Verständnis von urbanem Leben. Es kann nicht sein, dass das Interesse von Einzelpersonen höher gewichtet wird als das öffentliche Interesse einer ganzen Stadtbevölkerung.

Öffentliches Interesse, das heisst: Party?

Natürlich nicht total, ausser Rand und Band. Es ist eine Abwägensfrage. Aber wer in einer Stadt wohnt, muss bereit sein, einen gewissen Pegel zu akzeptieren. Der Tag- Nacht-Rhythmus ist nicht mehr derselbe wie früher. So weit ich es verstehe, müsste man sich auf Bundesebene mit der Zonenordnung dafür einsetzen, dass Kulturbetriebe einen für sie angemessenen Status bekommen.

Eine Kulturzone?

Das ist kein schlechter Begriff, ja.

Wenn Du über St.Gallen nachdenkst: Hast Du eine Vergleichsstadt?

Aufgewachsen bin ich in Waldstatt … St.Gallen ist für mich also schon ein bisschen Grossstadt. Aber neulich war ich in Kopenhagen. Es war ein Feiertag, wir sassen mit vielen anderen auf einer Brücke, es gab Musik in ordentlicher Lautstärke, und ich fragte: Braucht man dafür eine Bewilligung? Die Antwort war: Nein, das macht man spontan! Das könnten wir in St.Gallen auch brauchen.

 

Der Dokumentarfilm «A Little Mountain Village» von Angelo Zehr und Matthias Fässler ist am Dienstag, 8. Juli um 20 Uhr im Palace zu sehen.

Angelo Zehr, 1990, hat bald den Bachelor als Multimedia-Produzent und sitzt für die Juso im St.Galler Stadtparlament. 

Bild: Tine Edel 

6 Kommentare zu «Entscheidend ist: Ab welchem Zeitpunkt wird wer verdrängt?»

  • Johannes Gruber sagt:

    Gibt es auch die Möglchkeit den Film zu erwerben oder ihn irgendwo anders zu betrachten?

  • Angelo sagt:

    Ja, der Film wird nach den Vorführungen (die morgige wird wohl auch schon die letzte sein) auf Youtube bzw. http://www.little-mountain-village.ch veröffentlicht

  • Andreas Niedermann sagt:

    Der Film „Das kleine Bergdorf“ ist gut und informativ und – ein wenig deprimierend. Obendrein ein ordentliches Déjà vu für einen alten Sack, der noch die Anfänge der Grabenhalle erlebt hat, und die Sache nun aus der Distanz betrachtet. 
Ich fürchte, in zwanzig Jahren, wird es wieder einen ähnlichen Film geben, mit gleichlautenden Klagen, der gleichen Wut und ähnlichem Frust. 
“Keine Freiräume!“ Obschon – wie es im Film doch den Anschein macht – alle Beteiligten sehr bemüht und „guten Willens“ sind.
    Meiner Meinung nach, ist das Problem in St. Gallen unlösbar. Es liegt in der Topografie des „kleinen Bergdorfs“.
    Gefühlt, ist die Stadt zwanzig Kilometer lang, aber nur 15 Meter breit. Das fördert eine extreme Konzentrierung auf ein winziges Zentrum. 
Das begünstigt wiederum ein gewisses Durchdrehen. Auch der Anwohner.
    Es würde schnell besser werden, wenn man sich entschließen könnte, den Freuden -und den Rosenberg zu plattieren. Aber damit ist kaum zu rechnen.

    Trotzdem: Weitermachen!
Etwas anderes bleibt ja nicht. Außer …

  • Lukas Bossart sagt:

    Würde es schön finden, wenn man weniger städtische Nabelschau betreiben würde. Um die Stadt hat es nicht nur Agglo, ausser die Stadt tut alles dafür, dass rund herum gar nichts mehr gedeihen kann. Hab in Herisau und Rorschach schon sehr gute Konzerte erlebt und auch nach Gossau zu gehen schmerzt mich nicht allzu sehr. Das diese Konzerte schon länger zurückliegen mag sehr viele Gründe haben, aber das Angebot in der Stadt ist wohl nicht ganz unschuldig. Ob Stadt oder in der Nähe ist ja eigentlich egal, aber die vorhandene Infrastruktur so gut wie möglich nutzen und vielleicht sogar optimieren würde ich begrüssen.

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