, 31. Mai 2024
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Liegt die Zukunft im wilden Osten?

Die Stadt St.Gallen spart bei der freien Kulturszene, dafür beteiligt sich die Region. Ausserdem tut sich was beim langersehnten Haus für die Freien – das Update.

In dieser ehemaligen Fertigungshalle an der Oststrasse in St.Fiden eröffnet der Kunstkiosk am 1. Juni seine Gruppenausstellung «LINK». (Bilder: Projekt Interim)

Im August 2023 fand das Paula Interfestival zum ersten Mal statt. Es versteht sich als Schaufenster und will «das künstlerische Potenzial der freien Bühnenschaffenden in der Region sichtbar machen». Dazu bringt das Team um Rebecca C. Schnyder und Michael Finger hiesige sowie nationale und internationale Produktionen auf die Bühne. Zehn Tage Spektakel – ein voller Erfolg. Die Paulas und auch das Publikum waren entzückt und begeistert.

Paula findet alle zwei Jahre statt, also 2025 wieder. Kürzlich wurde aber bekannt, dass die Stadt dem Festival Gelder streicht. Statt 180’000 Franken soll Paula nur noch 150’000 Franken erhalten. Das sei ein schmerzlicher Einschnitt, der sich im Programm und somit in der Sichtbarkeit der Szene niederschlagen werde, sagen die Macher:innen. Nicht zuletzt, weil kürzlich die Richtgagen für Künstler:innen auf ein halbwegs faires Niveau erhöht wurden, was die Budgetplanung zusätzlich durcheinanderbringt.

Immerhin: Die regionale Förderplattform Kultur St.Gallen Plus springt dieses Jahr mit 10’000 Franken ein und dürfte sich voraussichtlich auch 2025 mit einem Betrag beteiligen.

Auch der freie Probe- und Produktionsraum Pool vom Verein Gemischtes Doppel im St.Galler Lachen-Quartier erhält insgesamt 20’000 Franken weniger von der städtischen Kulturförderung. Hier wird der gesamte fehlende Betrag von Kultur St.Gallen Plus ausgeglichen, also eine Nullrechnung. Die Stadt zahlt weniger, dafür beteiligen sich die Gemeinden in der Region.

Der Verein sucht bereits seit einiger Zeit nach einer räumlichen Nachfolgelösung. Ein Beispiel von vielen. Die freien Kultur- und Bühnenschaffenden in St.Gallen klagen seit Jahren über chronischen Ressourcenmangel. Es fehlt an allem: Spielorte, Proberäume, Werkstätten, Lager, Fundus, technische und allgemeine Infrastruktur und natürlich Geld. Seit den 80er-Jahren kämpfen sie für ein eigenes Haus mit Probe- und Aufführungsmöglichkeiten.

Das Bedürfnis ist auch bei den Behörden angekommen. Seit 2020 ist ein solches Haus – professionell geführt und spartenübergreifend – explizit im Kulturkonzept der Stadt verankert. Vier Millionen Franken wurden dafür laut Hochbauamt in die Investitionsplanung gestellt. Noch offen ist, ob das Geld für einen Um- oder einen Neubau eingesetzt werden soll. Das hängt ab von den Möglichkeiten, die sich der Stadt bieten. Auch der Kanton hat sich zu einem Haus für die freie Kulturszene bekannt.

Stadt unter Spardruck

Letzten Sommer hiess es seitens der Stadt, man wolle im Rahmen einer Auslegeordnung «die Grundlage für das weitere Vorgehen bei der Suche nach einem Haus für die freie Szene schaffen und gemeinsam mit dem Kanton eine gute Lösung finden». Die Rede war von sechs Varianten, viel getan hat sich seither nicht.

Plattformen wie Paula und Pool sind für die Szene unverzichtbar, solange das Haus für die Freien noch ein Wunschtraum ist. Trotzdem will die Stadt den Freien weniger zahlen. Was ist da los?

Von «wollen» könne keine Rede sein, betont Kristin Schmidt, Co-Leiterin der Kulturförderung der Stadt St.Gallen und stellvertretende Geschäftsführerin von Kultur St.Gallen Plus. Die Stadt sehe sich «dazu gezwungen aufgrund der nach wie vor finanziell schwierigen Situation». Das Sparprogramm Fokus25 sei weiterhin in der Umsetzung. «Hier sind alle Bereiche der Stadt gefragt, auch die Kultur.»

30’000 Franken weniger für Paula von der Stadt: Rebecca C. Schnyder und Michael Finger vom Festivalteam können den Entscheid nicht nachvollziehen. Die Kürzung der Unterstützungsbeiträge sei ein besorgniserregendes Signal seitens der Stadt – nicht zuletzt, da die freie Szene seit Jahren «ehrenamtlich mit der von ihr erwarteten Eigeninitiative in die Bresche springt und versucht, die vorhandene Lücke in der regionalen Kulturlandschaft zu schliessen».

Paula habe bisher einmal stattgefunden, erwidert Kristin Schmidt. Die Stadt unterstütze auch die im kommenden Jahr geplante zweite Ausgabe mit 150’000 Franken, hinzu kämen noch Gelder vom Kanton. Das seien grosse Beträge, die früher oder später einen Parlamentsentscheid erforderten, erklärt sie. «Wenn sich das Festival im Fall einer dritten Austragung zu einem dauerhaften Anlass entwickelt, muss der nächste Schritt zu einer Leistungsvereinbarung und einer Subvention führen, so wie sie auch das Jungspund-Festival nach der dritten Ausgabe erhalten hat.»

Beim Pool ist die Situation anders. Die Stadt hat für die Jahre 2024 und 2025 zwar je 10’000 gekürzt, doch unter dem Strich fehlt nichts, da das Geld neu von Kultur St.Gallen Plus kommt. Der im Juni 2023 gegründeten Regionalen Förderorganisation haben sich 18 Gemeinden aus dem Kanton St.Gallen angeschlossen, darunter auch die Stadt St.Gallen.

Der Pool verstehe sich als Projektraum für die Freie Szene über die Stadt hinaus, deshalb sei eine Finanzierung aus regionalen Kulturfördermitteln das richtige Zeichen, erklärt Kristin Schmidt diese Umlagerung der Fördermittel. Wobei die Stadt auch daran beteiligt sei, denn die zweimal 10’000 Franken von Kultur St.Gallen Plus enthielten auch städtische Gelder. «Die Stadt zahlt jährlich knapp 100’000 Franken in den regionalen Kulturfördertopf. Damit stammt ein Fünftel der regionalen Fördergelder aus der städtischen Kasse.»

Erfolglose Raumsuche

Die Umlagerung auf die Gelder des Vereins Kultur St.Gallen Plus ändert aber nichts an der dringlichen Raumsituation für Pool. Die Liegenschaft im Lachen-Quartier soll bald abgerissen werden, zudem freut sich die Nachbarschaft nur mässig über den Probebetrieb. Betreiberin Ann Katrin Cooper muss einen Umzug ohne konkretes Ziel planen – idealerweise wäre es das Haus für die Freien. Doch dieses muss, wenn nicht neu gebaut, dann erst noch gefunden werden.

Das Provisorium von Konzert und Theater St.Gallen ist mittlerweile abgebrochen und nach Ingolstadt verfrachtet worden. Zuvor hatte ein «Kulturappell» mit mehreren hundert Unterschriften gefordert, dass es der freien Szene zur Verfügung gestellt werden soll. Als Reaktion auf den Abbruch ist Das Haus entstanden. Der Verein versteht sich als «Ort für Aktionen». Laut Gründungs- und Vorstandsmitglied Peter Surber will man vor allem zeigen, was in einem Haus für die Freien alles möglich wäre und wie vielfältig die Szene ist. Das Vehikel dafür ist ein fiktiver Spielplan – momentan läuft gerade die zweite Spielzeit.

In Betracht gezogen als Spielstätte für die Freien wurden auch eine Liegenschaft an der Bogen- und eine an der Haggenstrasse. Eine genauere Prüfung in Zusammenarbeit mit den städtischen Behörden hat aber gezeigt, dass die Bauten entweder nicht mit dem Portemonnaie oder mit den baulichen Anforderungen für einen Theaterbetrieb vereinbar sind. Zurück auf Feld eins also.

Das passt so gar nicht zur umtriebigen Dynamik, die Pool, Paula und Das Haus seit einiger Zeit eint. Hier wurde in den letzten Monaten enorm viel Vernetzungs- und Auseinandersetzungsarbeit geleistet. Diese selbstorganisierte und ehrenamtliche Vorarbeit sollte sich irgendwie bezahlt machen – und vielleicht ist das sogar bald der Fall, denn im Osten der Stadt stehen ein paar Hallen, die belebt werden wollen. Könnte hier ein neues «Kulturhaus» entstehen?

Zwischennutzer:innen gesucht

Geholfen hat der Zufall. Ann Katrin Cooper vom Pool hat über mehrere Ecken von leerstehenden Räumen an der Oststrasse in St.Fiden gehört. Doch beim Augenschein vor Ort stellte sich heraus, dass es sich hier nicht nur um «ein paar Räume» handelt, sondern um mehrere ehemalige Produktionshallen samt Umkleiden, Lagerräumen und Büros. Beste Voraussetzungen für den Probe- und Produktionsraum Pool. Oder noch viel mehr: ein spartenübergreifendes Kulturhaus mit Veranstaltungen für bis zu 200 Besucher:innen – eine Grössenordnung, die in der Stadt St.Gallen aktuell fehlt.

Wir reden hier von mehreren hundert Quadratmetern. Kann natürlich kein normaler Mensch bezahlen, soviel Raum mitten in einem der geschichtsträchtigsten Quartiere und erst noch mit eigenem Bahnhofsanschluss. Auch die arme Stadt, im Würgegriff von Fokus25, hat da keinen Stich. Oder vielleicht doch?

Bewirtschaftet werden die Hallen und Gebäude von Projekt Interim. Früher produzierte die Firma HB-Therm hier Temperiergeräte, letzten Sommer ist das St.Galler Unternehmen in einen Neubau im Westen der Stadt gezügelt – und hat die leerstehenden Liegenschaften zur Zwischennutzung freigegeben. Projekt Interim, ein privatwirtschaftliches Unternehmen, will nun den Leerstand mit einer Zwischennutzungen überbrücken.

Um die Zwischennutzung anzukurbeln, hat Projekt Interim eine Kooperation mit jungen Kunstschaffenden aufgegleist: Von 1. bis 8. Juni zeigt der Kunstkiosk an der Oststrasse seine Gruppenausstellung «LINK» mit grossformatigen Werken. Danach sollen die Liegenschaften an der Oststrasse 23, 25 und 29 bis 31 Kunst- und Kulturschaffenden aller Couleur Raum bieten – bis dort irgendwann neu gebaut wird. Stand heute dauert die Zwischennutzung sicher bis Herbst 2026.

Die greifbarste Option seit Jahren

6000 Franken pro Monat will Interim für das ganze Haus an der Oststrasse. Ann Katrin Coopers Augen leuchten beim Rundgang durch die leeren Hallen. Als Profi weiss sie: Die Räume eignen sich in Sachen Akustik, Raumhöhen und Zugänglichkeit ideal für den Betrieb eines Kulturhauses. Sie ist überzeugt, dass sich die baulichen Massnahmen für Feuerschutz, Fluchtwege oder behindertengerechte WCs einigermassen günstig realisieren liessen und das Projekt «Kulturhaus» rasch bewilligungsfähig wäre. Denn das wäre die Voraussetzung. Und es ist gleichzeitig auch der Wermutstropfen: Die Lösung wäre befristet. Immer noch kein fixes Haus für die Freien.

Coopers Begeisterung tut das aber keinen Abbruch, und sie hat bereits auch andere aus der Kulturszene angesteckt. Völlig verständlich, denn es ist für viele eine ideale und die greifbarste Option seit Jahren. Hier wäre vieles möglich, vom Proben- bis zum Bühnenbetrieb, von der Tanzkompanie bis zum Jugendorchester. Ausserdem gibt es genügend Platz für Lager, Garderoben, Ateliers oder Büros. Und es gibt noch eine weitere, oft unterschätze finanzielle Komponente: Viele Stiftungen sprechen kein Geld, wenn für ein Projekt kein Publikum, sprich kein Aufführungsort existiert. Ein «Kulturhaus» mit Bühne könnte das ändern.

Anfang Woche haben auch die städtischen Behörden einen ersten Augenschein genommen – und grundsätzlich positiv reagiert. Von den räumlichen Anforderungen und Gegebenheiten her sei das Gebäude auf den ersten Blick durchaus eine Option, sagt Kristin Schmidt von der städtischen Kulturförderung. Aber es brauche noch weitere Abklärungen, unter anderem seitens der Feuerpolizei und des Hochbauamts. Erst dann könne man sagen, ob sich eine Investition lohne angesichts der befristeten Zeit. «Der Gesamtstadtrat wird sich so schnell wie möglich damit befassen.»

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