, 3. April 2024
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St. Gallens frühkoloniale Verflechtungen

Waren die reichsten St.Galler im 16. Jahrhundert Sklavenhändler? Solchen und vielen weiteren Fragen geht das St.Galler Stadtarchiv im postkolonialen Themenmonat nach.  

Die Marie-Séraphique, eingesetzt im transatlantischen Sklavenhandel im 18. Jahrhundert, fährt im Herbst 2023 über den Bodensee. (Bild: pd, Fotografie Sarah Montani, Bildmontage Andreas Butz und Daniela Saravo)

Distinguiertere Vertreter:innen praktizierter Geschichtswissenschaften mögen die Nase rümpfen ob des «Modethemas», dem sich das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde St.Gallen aktuell verschrieben hat. Dabei sprechen viele Gründe dafür, sich mit der bislang weitgehend unerforschten frühkolonialen Vergangenheit der Bodenseeregion auseinanderzusetzen.

Nicole Stadelmann und Rezia Krauer vom Stadtarchiv haben in ihren Archivbeständen – für sie selber überraschend – diverse Belege für die bereits im 16. Jahrhundert weitverzweigten Verflechtungen von St.Galler Kaufleuten in den weltweiten Kolonial- und Sklavenhandel entdeckt. Nun organisieren sie dazu einen Themenmonat (eigentlich zwei Monate: April und Mai) mit einem bunten Strauss an Veranstaltungen.

Ausgangspunkt dafür war die Ausstellung «Stoff. Blut. Gold.» über die Beteiligung von Konstanzer Kaufleuten am transatlantischen Sklaven- und Kolonialhandel des 16. Jahrhunderts, die 2021 im Richental-Saal in Konstanz gezeigt wurde. Die ursprüngliche Idee war, diese Ausstellung nach St.Gallen zu holen und sie um ein St.Galler Kapitel zu erweitern.

Deutsche Weltherrschaft und St.Galler Beteiligung

Die Recherchen im Stadtarchiv förderten viel Interessantes zutage, allem voran über den St.Galler Hieronymus Sailer, der sich im frühen 16. Jahrhundert über die Konstanzer Firma Ehinger dem Augsburger Handelshaus Welser andiente. Der deutsche Habsburger-Kaiser Karl V. bewilligte den Welsern 1528 den Transport versklavter Menschen aus Afrika in ihre eigene Kolonie «Klein Venedig» im heutigen Venezuela. Denn der Sklavenhandel war zu dieser Zeit ein Monopol der spanischen und portugiesischen Kronen, die damals in habsburgischer Hand waren.

So viel zum Klischee «Deutschland war nie eine grosse Kolonialmacht»: Das Haus Habsburg kontrollierte durch seine Herrschaft über die iberischen Königreiche und deren Überseegebiete bis weit ins 17. Jahrhundert ein eigentliches transatlantisches Weltreich. Man könnte auch sagen: Das Deutsche Reich war vermutlich nie mehr so nah an der Weltherrschaft wie in dieser Zeit.

Stadtarchiv und Ortsbürgergemeine St.Gallen (Hrsg.): Konquistadoren und Sklavenhändler vom Bodensee – Kolonialgeschichte im 16. Jahrhundert. Format Ost, Schwellbrunn 2024

Und St.Gallen mittendrin: Kaufleute aus der Bodenseeregion waren schon im 16. Jahrhundert entscheidend am Sklavenhandel beteiligt, im Kolonial-Unternehmen Welser nebst Hieronymus Sailer zum Beispiel auch der St.Galler Konquistador Melchior Grübel, der sich mit dem Schwert eigenhändig an der Eroberung «Klein Venedigs» beteiligte. Oder Michael Sailer, der in die Fussstapfen seines Onkels Hieronymus trat und jahrzehntelang die Finanzgeschäfte der Welser in Europa organisierte.

Die Stadtarchivarinnen Nicole Stadelmann und Rezia Krauer fanden auch in den St.Galler Beständen immer mehr Zeugnisse über die Funktionsweise dieses transatlantischen Sklaven- und Warenhandels, was sie – nebst Mangel an geeignetem Raum – dazu bewog, keine erweiterte «Stoff-Blut-Gold»-Ausstellung einzurichten, sondern diesen Themenmonat zu organisieren und eine Begleitpublikation herauszugeben.

Das grosse Forschen kann beginnen

Stadelmann und Krauer legen ihren Fokus ganz bewusst nicht auf das 18. und 19. Jahrhundert, sondern auf die bislang noch wenig erforschte Frühphase des europäischen Kolonial- und Sklavenhandels. Nebst ihnen haben auch die beiden Konstanzer Forscherinnen und Ausstellungsmacherinnen Hannah A. Beck und Kirsten Mahlke einige Kapitel zum Buch Konquistadoren und Sklavenhändler vom Bodensee – Kolonialgeschichte im 16. Jahrhundert beigesteuert. Sie haben damit das Fenster zu einem bisher unbekannten Stück globaler Regionalgeschichte aufgestossen und betonen gleichzeitig, dass für die Diskussion ihrer Ergebnisse zwingend in weiteren Bibliotheken und Archiven – etwa in Spanien und Portugal – recherchiert werden müsste.

Themenmonat zur Kolonialgeschichte in der Bodenseeregion: 4. April bis 29. Mai, Vorträge und Führungen in St.Gallen,Konstanz, Lindau, Heiden und Appenzell

bodensee-kolonialgeschichte.ch

Zum Diskutieren der bisherigen Resultate gibt es jetzt erstmal mehr als genug Gelegenheit. Der Themenmonat beginnt im Stadthaus der Ortsbürgergemeinde St.Gallen am 4. April mit der Buchvernissage von Konquistadoren und Sklavenhändler vom Bodensee mit Nicole Stadelmann und Rezia Krauer. Am 10. April folgt im St.Galler Raum für Literatur ein Referat zu den Kolonisatoren und Sklavenhändlern aus der Bodenseeregion von Kirsten Mahle und Hannah A. Beck. Und am 17. April präsentiert Künstlerin Sarah Montani ihr digitales Kunstprojekt, ein dreidimensionales Sklavenschiff auf dem Bodensee, gefolgt von einem Referat über St.Galler Konquistadoren im 16. Jahrhundert, gehalten wiederum vom Duo Stadelmann/Krauer. Das üppige Programm umfasst 19 weitere Anlässe und Führungen in der ganzen Bodenseeregion in Kooperation mit diversen Personen und Institutionen.

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