, 3. Februar 2024
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Am Anfang der Moderne steht eine Frau

Heute würde die Autorin Gertrude Stein 150 Jahre alt. Florian Vetsch würdigt die «Mutter der Avantgarde», die als Jüdin, offen lebende Lesbe und Amerikanerin den Naziterror in Frankreich undercover überlebte.

Gertrude Stein (links), ihr Hund Basket und Alice B. Toklas. (Bild: Archive Everett Collection)

Godiva funktionierte schon seit Tagen nicht mehr richtig. In den Garagen von Paris mochte sich keiner um den alten Ford kümmern. Aber draussen in Montrouge, da gab es in einem Schuppen diese Werkstatt mit Mechanikern, die noch ein Herz für alte Modelle hatten. Also machte sich die 51-jährige Schriftstellerin Gertrude Stein Anfang Januar 1926 auf den Weg nach Montrouge, wohl auf die Schilder achtend, denn rückwärtsfahren konnte die «Mutter der Avantgarde» bezeichnenderweise nicht.

Und da war dieser Vortrag, den sie im Juni für die literarische Gesellschaft in Oxford halten sollte. Sie hatte bislang nur in engstem Freundeskreis gelesen, in ihrem zur Legende gewordenen Salon an der 27 rue de Fleurus – allerdings vor der Crème de la crème der literarischen und künstlerischen Szene; trotzdem hatte sie die Einladung angenommen. Und nun lag ihr die Sache auf dem Magen. Es wollte sich kein rechter Anfang einstellen, kein Thema. Wenn sie daran dachte, wurde sie nervös.

Am frühen Nachmittag kam sie in Montrouge an, fuhr Godiva in den Schuppen. Vom Trittbrett eines anderen alten Fords aus sah sie zu, wie sich die Mechaniker an die Arbeit machten. Und da setzte es ein: «There is singularly nothing that makes a difference a difference in beginning and in the middle and in ending». Nachdem die Mechaniker Godiva auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hatten, stand der Vortrag Composition as Explanation (Komposition als Erklärung). Gertrude Stein war erleichtert, aber völlig durchfroren; die Arbeit hatte Stunden gedauert.

Wie dieser Vortrag entstand, ist typisch für das Schaffen der bahnbrechenden Exilamerikanerin. Eine ihrer Maximen lautete: «Jederzeit ist es Zeit ein Gedicht zu machen.» Spätestens seit 1914, der Publikation ihres prosapoetischen Bands Tender Buttons (Zarte Knöpfe), werkgeschichtlich aber bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, nahm sie die spontanen Methoden der Dadaist:innen, Surrealist:innen und der Beat-Generation vorweg. Literaturgeschichtlich korrekt stehen Gertrude Steins Texte am Anfang der Moderne – Schwitters, Kafka, Pound, Joyce oder Beckett kommen später… Hier als Beispiel ein Schmankerl aus dem genannten Band:

«KOCHEN. Ach, ach der Klüngel ach die Klingel ach die Porzellanküste, ach das kleine Blatt darein ach die Hochzeit Butter Fleisch, ach der Topf, ach die Rückenform der Muschel, Muschel und Soda.»

«Mir ist wirklich heute ganz und gar nicht nach Philosophie-Examen zumute»

Gertrude Stein kam am 3. Februar 1874 in Allegheny, Pennsylvania, zur Welt. Sie war die Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie, deren Vorfahr:innen zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Bayern in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren. Sie studierte in Cambridge, Massachusetts, am Radcliffe College, unter anderem bei dem Pragmatiker William James, zu dessen engstem Kreis sie gehörte, Philosophie. Sie erinnert sich in ihrem Buch The Autobiography of Alice B. Toklas:

«Es war an einem wunderschönen Frühlingstag, nachdem Gertrude Stein schon seit Tagen Abend für Abend, manchmal auch noch nachmittags, in die Oper gegangen und auch sonst noch reichlich in Anspruch genommen war, trotzdem es die Zeit der Abschlussexamen war; und nun fand die Prüfung von William James statt. Sie sass da und hatte den Fragebogen vor sich liegen, aber sie konnte einfach nichts hinschreiben. Lieber Professor James, schrieb sie zuoberst hin, es tut mir so leid, aber mir ist wirklich heute ganz und gar nicht nach Philosophie-Examen zumute, und damit ging sie. – Am folgenden Tag erhielt sie eine Postkarte von William James, auf der stand, liebes Fräulein Stein, ich begreife vollkommen, wie Ihnen zumute ist, mir geht es oft selbst so ähnlich. Und darunter stand die Examennote, die er ihr gab, die beste in seinem Kurs.»

1903 zog Gertrude Stein zu ihrem Bruder Leo nach Paris. Leo, mit dem sie sich später entzweite, steckte sie mit seiner grossen Leidenschaft für das Sammeln von zeitgenössischer Kunst an. Bald barg ihr Apartment nicht nur Gemälde von Cézanne, Valloton oder Renoir, sondern auch, und immer mehr, Werke von den verfemten Modernen, Werke von Matisse, Braque, Duchamps oder Picabia.

Darunter befand sich auch ein Porträt von Gertrude Stein, das Pablo Picasso 1906 gemalt hatte: «das einzige Bild von mir, das für immer ich ist.» 90 Mal sass sie ihm dafür Modell. Doch er wollte einfach nicht zufrieden sein damit, nicht mit dem Gesicht. Er übermalte es, wischte es aus und meinte Gertrude gegenüber, er könne nichts mehr sehen. Dann fuhr er über den Sommer in die Pyrenäen. Was er nach seiner Rückkehr frei aus der Erinnerung schuf, war ein Antlitz, das den flächigen Gesichtern afrikanischer Skulpturen näherkam als einem exakten Konterfei.

«Xperimente aller Art»

Es ist kein Zufall, dass Picasso ausgerechnet Gertrude Steins Kopf mit primitivistischen Zügen versah, denn was sie selbst damals schuf, unterlief alle Werte zivilisierter Literatur. Ihr «Modell der Verwirrung» erschütterte als Metapher der modernen Gemütsverfassung die Tradition bis ins Mark. Sie behandelte Sprache nicht als Informationsträgerin, sondern als Steinbruch für literarische Intensität. Sprachmaterial machte sie lesbar als etwas Unverstelltes, energetisch Unverfügbares, Wildes.

Ent-intellektualisierung war ihr Primitivismus: «Es ist nicht Klarheit, die wünschenswert ist, sondern Kraft.» Konventionelle Erwartungshaltungen zerschlug sie, indem sie, provokant und konsequent, sinnwidrige, krude, absurde Texte produzierte. In dissoziativen Sprachexperimenten, «Xperimenten aller Art», setzte sie den gewohnten Bedeutungskontext der Wörter ausser Kraft und liess die Wörter sprechen, als hätten sie noch nie gesprochen, als trügen sie keine Geschichte in sich.

Alice B. Toklas und Gertrude Stein an der 27 rue de Fleurus, Paris (1922). (Bild: Contemporary Jewish Museum)

Erzähltechnisch arbeitete Gertrude Stein nicht mit einer von Anfang bis Ende durchstrukturierten Handlung. Sie hielt die Leserschaft nicht mittels Seite um Seite vorangebrachter Enthüllungen in Atem, bot keine Spannung. Vielmehr komponierte sie literarische Simultanbilder, kubistische Kaleidoskope. Dabei ging es ihr um Statik, Vertiefung, polyperspektivische Verstetigung. Die vielen Wiederholungen, für die sie oft von Geschmäcklern und Besserwissern gerügt wurde (und wird), dienen der literarischen Schaffung einer «kontinuierlichen Gegenwart».

Gertrude Steins Jahrhundertbuch The Making of Americans (entstanden 1903-1911, veröffentlicht 1925) teilt mit Prousts À la recherche du temps perdu (1913) und Joyces Ulysses (1922) nicht nur die Monumentalität, sondern auch das Fehlen einer dramatischen Handlung, die Auffächerung der Zeit sowie, nicht zuletzt, die Destruktion des Helden: «Mein Held – ich habe ihn umgebracht.»

 

«Rose is a rose is a rose is a rose.»

Steins berühmtester repetitiver Vers lautet: «Rose is a rose is a rose is a rose.» Er zierte, in einen Kreis gefasst, ihr Briefpapier, ihre Bettwäsche, ihr Geschirr… Der Vers ging ursprünglich von einem Backfisch aus, der Gertrude während der Sommerfrische in Bilignin auf dem Land ins Auge gestochen war und Rose hiess. «Rose is a rose» meint denn, dass Rose eine schöne junge Frau ist. Dann kam eine dritte Rose hinzu, die den Satz «Rose is a rose» selbst zur Rose erklärte. Die vierte Rose aber befreit die Rose von jedem Referenzcharakter, giesst den Vers um in ein reines Sprachereignis.

Doch was ereignet sich sprachlich? Nichts als eine Rose, freigepellt vom Ballast ihrer jahrhundertealten Symbolik: eine sprachgeborene Rose. Gertrude Stein meinte einmal, in diesem Satz sei die Rose in der Literatur zum ersten Mal seit über hundert Jahren wieder rot. Steins Leibvers ist zugleich ein Musterbeispiel für die Serialität ihrer Texte. Diese Wiederholungen sind keine Tautologien, sondern Serien mit einer eigenen Schwingung und Vibration. So antizipieren sie die Serialität der Pop-Art, der Minimal Music und der Konkreten Poesie.

Diesem Schreiben der «Entität», in das sie seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eingetaucht war, setzte sie später ein Schreiben der «Identität» entgegen. Für dieses gilt: «Ich bin ich weil mein kleiner Hund mich kennt.»

In den Texten der «Identität» geht es also um Gertrude Stein selbst. Es sind autobiografische Bücher, verfasst in einem leichtverständlichen, ausgesprochen einfachen Stil. Mit diesem Stil sollte sie, spät genug, die Herzen einer breiten Leserschaft erobern. 1932 schrieb Gertrude Stein innerhalb von nur sechs Wochen die Autobiografie von Alice B. Toklas, zweifellos eines der vergnüglichsten Bücher zum Beginn der Moderne.

«Lies die Bibel, lies Dante, lies mich.»

Doch wie kam sie überhaupt dazu, die Autobiografie ihrer Lebensgefährtin selber zu schreiben? Alice B. Toklas war seit 1907 Gertrudes Lebenspartnerin. Sie hatte mit ihr einen Bund unverbrüchlicher Treue geschlossen, welcher die Liebesangelegenheiten beider definitiv regeln sollte.

 

Alice konnte Kunstwerke perfekt abstauben, Gertrudes Texte ins Reine bringen und als Verlegerin auftreten, sie konnte die Frauen und Freundinnen der Künstler, die ihre avantgardistische Gefährtin besuchten, glänzend unterhalten, den Haushalt führen und insbesondere exquisit kochen (neben einem Erinnerungsbuch publizierte Alice das fantastische Buch Kochen für Gertrude Stein und ihre Gäste) – doch sie kam nie Gertrudes lange gehegtem Wunsch nach, eine Autobiografie zu schreiben. Deshalb setzte sie Gertrude schliesslich selbst auf. Und erzählte darin freilich mehr über sich als über Alice.

An Selbstbewusstsein hatte es Gertrude Stein, von der Hemingway einmal sagte, sie sehe aus wie «ein römischer Kaiser», noch nie gefehlt: «Lies die Bibel, lies Dante, lies mich.» Oder: «Einstein ist das philosophische Genie dieses Jahrhunderts, ich bin das literarische.»

Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs tarnten sich die beiden lesbischen amerikanischen Jüdinnen Gertrude und Alice als französische Bäuerinnen auf dem Land. Dass sie nicht gefangengenommen und deportiert wurden, verdankten sie einerseits der französischen Bevölkerung, die ihre Namen auf den Registraturlisten der Deutschen unterschlug, anderseits aber auch Gertrudes Beziehungen zum Vichy-Regime (eine Frucht des Erzkonservativismus, dem sie, politisch mitunter völlig myop, anhing).

Dennoch: Gertrude und Alice hatten in der Höhle des Löwen überlebt und wurden von den GIs nach der Befreiung Frankreichs abgefeiert. Doch die Freude darüber sollte den beiden nicht lange vergönnt sein; am 27. Juli 1946 starb Gertrude Stein an Krebs im amerikanischen Krankenhaus in Paris. Alice erinnert sich an ihre letzten Worte: «Ich sass bei ihr und sie sagte am frühen Nachmittag zu mir: Wie lautet die Antwort? Ich war still. In diesem Fall, sagte sie, wie lautet die Frage?»

Gertrude Steins Werk ist geblieben: «If this you see remember me». Steins Arbeiten der «Entität» geben noch immer Rätsel auf, sie kommen gleichsam noch immer auf uns zu, auch 150 Jahre nach ihrem Geburtstag und rund 80 Jahre nach ihrem Tod, ihre theoretischen Essays und Vorlesungen faszinieren nach wie vor, ihre autobiografischen Bücher unterhalten mit Witz und Prägnanz bis heute eine weltweite Leserschaft.

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