, 2. Februar 2024
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«Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen»

Am Montag ist die israelische Erfolgsautorin Zeruya Shalev in der Aula der Kantonsschule am Burggraben mit ihrem kürzlich ins Deutsche übersetzten Roman-Debut «Nicht Ich» zu Gast. von Gallus Frei-Tomic

Zeruya Shalev an der Frankfurter Buchmesse 2015. (Bild: Wikimedia Commons)

Mit ihrer Trilogie Liebesleben, Mann und Frau und Späte Familie hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur, weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil Liebesleben im Jahr 2000 wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Shalevs Erstling Nicht Ich, der 1993 unter dem Titel Dancing, Standing Still in Israel erschien und damals nie jene Resonanz von Liebesleben erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk.

Ein Buch wie ein Dammbruch

Als Zeruya Shalevs Roman vor 30 Jahren in Israel erschien, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch.

Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse sie «verwundet und verängstigt zurück», so sehr, dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Drei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer Reihe von Bestsellern im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Aktualität ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass Nicht Ich derart Wellen schlägt, eben darum, weil seine Deutsche Übersetzung jetzt viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags.

Zeruya Shalev: Nicht Ich. Berlin Verlag, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten

Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke Zeruya Shalev. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. Nicht Ich ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich und ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel Nicht Ich macht die Autorin unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist – eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird.

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und dabei schwer verletzt. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine «zerstörte Frau», der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben «falsch» angegangen zu sein.

Sprachgewordene Verzeweiflung

Nicht Ich ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus flirrenden Bildern zwischen Wahn und Realität. Da ist eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. «Zu viele unterirdische Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind.» Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Am 5. Februar liest Zeruya Shalev auf Einladung des Literaturhauses St.Gallen aus Nicht Ich. Das Gespräch führt Marcy Goldberg. Aus der deutschen Übersetzung von Anne Birkenhauer liest die Schauspielerin Graziella Rossi.

19.30 Uhr, Neue Aula der Kantonsschule am Burggraben

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr das passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt: «Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen.»

Und trotzdem ist Nicht Ich eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt eine, die die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. Nicht Ich ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

 

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – Liebesleben, Mann und Frau, Späte Familie – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane Schmerz (2015) und Schicksal (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

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