, 15. November 2023
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Glaube deiner Gewerkschaft

Saiten-Kolumnistin Anna Rosenwasser hat sich die letzten Monate verwahlkrampft. Weil sie Warnsignale ignoriert hat. Dabei weiss sie eigentlich schon länger: Hardcore Arbeiten ist ungesund.

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen als Rosa Buch im März beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten.

Ich will es lieber Wahlzeit statt Wahlkampf nennen, sagte ich vor einigen Monaten, ich sagte: Am Ende will ich glücklich erschöpft sein, nicht komplett zerstört. Ich sagte und meinte das, und: uff.

Ich präzisiere: Wahlkrampf. Weil plötzlich alle gleichzeitig krampfen. Weil er ein Ablaufdatum hat wie Kuhmilch. Weil wir für Parteien kandidieren, die gegen Ausbeutung sind, und dabei uns selbst ausbeuten.

Warum ich mich die letzten Monate verwahlkrampft habe? Im Verlauf dieser Zeit habe ich aufgehört, auf meine eigene innere Gewerkschaft zu hören. Gewerkschaften sind ja normalerweise Zusammenschlüsse ganz vieler Menschen, die in der gleichen Branche arbeiten und zusammen für bessere Arbeitsbedingungen einstehen – aber für Influencerinnen und Aktivistinnen gibt es das nicht. Es gibt keinen geforderten Mindestlohn dafür, auf Social Media Bildungsarbeit zu leisten, ausser die Erwartung: gratis.

Also habe ich vor einigen Jahren begonnen, mir eine innere Gewerkschaft vorzustellen. Stark vereinfacht kann man ja schon sagen, dass da verschiedene Arbeitskräfte zusammenkommen. Mein Körper und meine Psyche arbeiten zusammen, für mich quasi, und wenn die Arbeitsbedingungen nicht gut sind, können sie schon mal in den Streik treten. Aber davor senden sie Warnsignale. Und wir alle lernen – insbesondere Frauen und links engagierte Menschen! –, diese Warnsignale zu ignorieren.

Ich bin nicht links geworden, um mich selbst auszubeuten. Wenn ich es mir leisten kann, meine Arbeitsbelastung zu reduzieren, will, ja muss ich das tun. Auf meine innere Gewerkschaft hören, um zu spüren, was nötig ist. Und das dann durchziehen. Zu Beginn dieses Unterfangens vor einigen Jahren merkte ich: Alle Arbeit auf meinem privaten Handy zugänglich zu haben, also Mails und Social Media, dazu Anfragen via Whatsapp und Anrufe von Auftraggebenden, Journalistinnen und Privatpersonen, das geht nicht. Dann lauert die Arbeit zwischen Liebes-SMS und Freundinnentreffen. Die innere Gewerkschaft forderte also ein Arbeitshandy (und bekam dabei externe Verstärkung meiner Therapeutin, die das auch eine prima Idee fand).

Einige Monate später merkte ich: Kein Arbeitshandy nützt mir was, wenn ich einfach jeden Tag arbeite, mal viel und mal nur wenig, aber halt immer ein bisschen. Die innere Gewerkschaft forderte: ganze Freitage, nicht halbe. Also habe ich ganze Tage eingeführt, an denen ich mein Arbeitshandy nicht anrühre, Social Media nicht bediene, kein einziges Mal meine Mails checke. Mensch, das half. Es ist nicht immer einfach einzuhalten, aber es hilft enorm. Meine innere Gewerkschaft weiss, was gut ist!

Die happigste Forderung kam diesen Frühling. Wir brauchen eine radikale Arbeitszeitreduktion, forderte sie, fünf Tage Hardcore-Arbeit ist zu viel. Sie beruft sich da auf die zahlreichen Studien (und politischen Forderungen), die schon lange dafür plädieren, die 50-Stunden-Woche abzuschaffen. Als Selbstständige fiel mir das nicht leicht, weil ich ja eben selbst und ständig arbeitete – aber ich spürte, dass es das Richtige war, und ich zog es durch. Die Effekte waren krass und den Studien entsprechend: eine bessere körperliche Gesundheit plus bessere psychische Gesundheit.

Dann kam der Wahlkrampf, und meine innere Gewerkschaft warf irgendwann ihre Demoschilder hin und verliess schnaubend den Raum. Ich werde versuchen, sie zurückzuholen. Ohne Gewerkschaften lebt es sich nicht gut.

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