, 13. September 2023
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Volldemokratie wann?

Wer das Schweizer Bürger:innenrecht erhalten will, ist oft behördlicher Diskriminierung und Willkür ausgesetzt. Das will die Demokratie-Initiative ändern. Am Dienstagabend wurde in der Grabenhalle St.Gallen über die grundsätzlichen Fragen diskutiert – und über Lösungsansätze.

Von links: Ueli Mäder, Barbara Gysi, Sonia Casadei, Lejla Medii und Etrit Hasler. (Bilder: pd)

Zum Beispiel Rubar. Als sie sich 2020 einbürgern lassen wollte, verlangte das Amt eine «Unterhaltsgarantie» von ihr, weil sie noch in der Ausbildung war. Eine Person hätte sich verpflichten sollen, mit bis zu 30’000 Franken für Rubar zu bürgen. Sie intervenierte, das Amt lenkte ein und verlangte nun stattdessen eine Auflistung all ihrer Einnahmen. Damit aber nicht genug, Rubar sollte auch noch 14’000 Franken Sozialhilfe zurückzahlen, die sie während ihres Maturajahres bezogen hatte, obwohl sich ihre finanzielle Situation zwischenzeitlich nicht merklich gebessert hatte, zumal sie immer noch Auszubildende war. Erst nachdem Rubar die Behörden auf einen Bundesgerichtsentscheid aufmerksam machte, wonach der Bezug von Sozialhilfe bei der Einbürgerung kein Killerkriterium mehr sein darf, erklärten sich diese bereit, die junge Frau einzubürgern. 2023, also drei Jahre nach ihrem Gesuch.

Oder Anja. Ihren ersten Einbürgerungsanlauf nahm sie 2010, allerdings erfolglos, da sie kurz zuvor in die Nachbargemeinde gezogen war. Sie musste also nochmals fünf Jahre warten. Im Einbürgerungstest beim zweiten Anlauf musste sie unter anderem beantworten, wann das CERN in Genf gegründet wurde. (Am 29. September 1954, fyi.) Schliesslich folgte das Vorsprechen. Sieben oder acht Leute seien ihr bei diesem «Verhör» gegenübergesessen, sagt Anja. Sie musste unter anderem die Gewässer und Gemeinderät:innen in ihrer Gemeinde aufzählen. Oder erklären, was Capuns ist. Und die Namen der örtlichen Grundschulen nennen, was ihr als Kinderlose nicht gelang. Anjas Einbürgerungsgesuch wurde abgelehnt mit der Begründung, sie sei nicht genügend integriert und wisse zu wenig über die lokalen Verhältnisse. «Mein damaliger Lebensgefährte hat mir angeboten, mich zu heiraten», sagt sie. «Das will ich aber nicht. Hätte ich es aber gemacht, dann wäre ich heute Schweizerin.»

Bis vors Bundesgericht

Diese und viele weitere Geschichten sind auf einbürgerungsgeschichten.ch nachzulesen. Gesammelt werden sie von Sonia Casadei. Auch sie hat einen langen Weg hinter sich. Fünfeinhalb Jahre haben sie und ihre Familie für den Schweizer Pass gekämpft, obwohl sie in der Schweiz geboren wurde und ihr Mann seit über 30 Jahren hier lebt. Schliesslich zogen sie bis vors Bundesgericht – und erhielten in allen Punkten Recht. Diese Odyssee hat nicht nur viele Nerven, sondern auch Geld gekostet. Mehrere zehntausend Franken für Gerichts- und Anwaltskosten musste die Familie vorschiessen. Auf 11’000 Franken sind sie am Ende sitzengeblieben. Aber sie sind heute «zertifizierte» Schweizer:innen.

Am Dienstagabend war Sonia Casadei in der Grabenhalle zu Gast und hat ihre Geschichte erzählt. Anlässlich des 175-Jahre-Jubiläums der Bundesverfassung lud die Aktion Vierviertel pünktlich um 18:48 Uhr zum Fest und zur Podiumsdiskussion «für ein modernes Bürger:innenrecht». Neben Casadei auf der Bühne sassen SP-Nationalrätin Barbara Gysi, die Juristin Lejla Medii und der Soziologe Ueli Mäder. Moderiert wurde die Runde vom ehemaligen St.Galler Kantons- und Stadtparlamentarier Etrit Hasler. Auch er wurde in den 80ern eingebürgert, im Rahmen der Scheidung seiner Eltern. Die Behörden befanden damals, der albanische Name seines Vaters könne dem Bub «zum Nachteil gereichen».

Die beste Dreiviertel-Demokratie der Welt – wenn überhaupt

Solche Geschichten klingen willkürlich und absurd, doch sie passieren jeden Tag und überall, auch im Kanton St.Gallen. Prominentes Beispiel hierfür ist der in Oberriet geborene Mergim Ahmeti. Ihm wurde die Einbürgerung verweigert, weil er die Beizen in seinem Dorf nicht kannte bzw. frequentierte. 2020 hat das Departement des Inneren Ahmetis Rekurs Recht gegeben, heute ist er Schweizer. Unterstützt wurde er damals von den SP-Politikern Paul Rechsteiner und Arbër Bullakaj, die sich aktuell auch im Rahmen der Demokratie-Initiative für ein faires und zeitgemässes Einbürgerungsrecht einsetzen.

Ständeratskandidat Arbër Bullakaj begrüsst das Publikum.

Die Schweiz sei zwar eine der ältesten Demokratien der Welt, sehe man von der viel zu späten Einführung des Frauenstimmrechts einmal ab, aber sie sei sicher nicht die beste Demokratie der Welt, sagte Vierviertel-Präsident Arbër Bullakaj in seiner Begrüssung. «Sie ist, wenn überhaupt, die beste Dreiviertel-Demokratie der Welt.» Immer noch dürfe nämlich ein Viertel aller Menschen in diesem Land nicht mitbestimmen, über zwei Millionen Menschen. Eine wahrhaftige liberale Demokratie müsse sich jedoch stets hinterfragen und laufend verbessern, betonte Bullakaj. Er sieht Rückschritte: Vor 100 Jahren habe die Einbürgerung noch als Anfang des sogenannten Integrationsprozesses gegolten, heute sei sie der Schluss – «quasi eine Belohnung für gutes Benehmen». Doch «gleiche Rechte sind das Fundament jeder modernen Demokratie und kein Privileg, das man sich als Bittsteller:in verdienen muss».

Der bornierte Provinzialismus

Der Schweizer Pass als fast schon religiös überhöhtes Stück Papier. Die einen haben ihn bei der Geburtslotterie rein zufällig gewonnen, die anderen müssen für den Pass akribisch «verifiziert und zertifiziert» werden. Wie sind wir in diese Situation gekommen und wie kommen wir da wieder heraus? Das wollte Etrit Hasler von seinen Gästen wissen.

Frage eins war relativ rasch geklärt. Soziologe Ueli Mäder sieht eine Ursache im finanzgetriebenen globalen System, das einseitig und nur auf Konkurrenz und kurzfristigen Nutzen ausgelegt sei. Der Globalismus mache vielen Angst, zudem sei die Gesellschaft heute stark segregiert und die soziale Ungleichheit gross. Darum beobachte man vielerorts «eine gegenläufige Bewegung von borniertem Provinzialismus, der sehr Hand in Hand mit rechtspopulistischen neuen Tendenzen geht». Die nationalistische SVP wolle de facto ein Land kreieren, in dem die Staatsbürgerschaft käuflich sei, pflichtete Hasler bei. «Sie soll nur noch jenen offenstehen, die einen wirtschaftlichen Nutzen bringen.»

Diese Logik des wirtschaftlichen Nutzens würde implizieren, dass die Menschen, die Sonia Casadei ihre schwierigen Einbürgerungsgeschichten erzählen, alle armutsbetroffen oder geringverdienend sind. Das verneinte die Zugerin aber klar. «Viele Leute haben die Matura, eine gute Ausbildung und gute Löhne», erklärte sie. An mangelndem Wohlstand liege es nicht. «Sondern am willkürlichen System, das sich über die Jahre entwickelt und für die Schweiz bewährt hat. Und jahrelang hat niemand den Mut gehabt, sich dagegen zu wehren.» Mit der zweiten und dritten Generation habe sich das zum Glück etwas geändert, die erste Generation der Eingewanderten wollte vor allem eines: möglichst nicht auffallen.

Das migrationsgeschichtliche Bewusstsein stärken

Mehrfach kritisierten die Gäste die quasi religiöse Idee eines ausgesuchten Schweizer Volkes. Auch Barbara Gysi hat das Märchen vom «Sonderfall Schweiz» satt. Wenige Stunden vor dem Gespräch in der Grabenhalle sass sie noch an der Session in Bern und beging den offiziellen Festakt zum 175-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung mit. «Immer wieder wird uns gesagt, wie besonders wir sind. Die Schweizerische Staatsbürgerschaft wird übersteigert dargestellt, dabei können die meisten von uns gar nichts dafür. Wir sind Meisterinnen darin, uns in die Tasche zu lügen und vergessen, dass ein Grossteil der Schweizer Haushalte eine Migrationsgeschichte hat – das müssen wir uns immer wieder bewusst machen.»

Das migrationsgeschichtliche Bewusstsein und Selbstverständnis zu stärken ist ein Weg, um aus der bürgerrechtlichen Misere zu kommen. Exakt das will auch das Kollektiv Ostwind, zu dem die Juristin Lejla Medii gehört. In Zusammenarbeit mit INES und anderen organisiert es immer wieder Anlässe und Diskussionen zur postmigrantischen Schweiz. Das heisst auch: Sichtbar machen und sichtbar sein. Sonia Casadeis Plattform hat dasselbe Ziel. Durch die Öffentlichkeit, die sie mit ihrem Verein schafft, hat sie idealerweise ein wenig Einfluss auf die Einbürgerungspraxis in ihrem Kanton. Manches habe sich bereits zum Positiven verändert, sagte sie.

Lejla Medii und Etrit Hasler

Hasler sieht auch die Städte in der Pflicht. Sie müssten ihre Spielräume nutzen und selbstbewusster und grosszügiger einbürgern, forderte er und zitierte sogleich Stadträtin Maria Pappa – ebenfalls seit einigen Jahren «zertifizierte» Schweizerin – vom Publikum auf die Bühne. Da gebe es sicher noch Potenzial, räumte sie ein und verwies auf den Brief, den die Stadt St.Gallen jedes Jahr im Rahmen der Jungbürger:innenfeier an die neuen Volljährigen verschickt – und zwar an alle, egal ob mit oder ohne Schweizer Pass. «Wir laden alle ein und fordern die jungen Ausländer:innen gleichzeitig auf, sich einzubürgern.» Bei den Einbürgerungsgesprächen in der Stadt, bei denen jeweils nur zwei Personen anwesend sind und nicht fünf oder sechs wie in anderen Gemeinden, lege man ausserdem Wert darauf, dass es wirklich nur ein Gespräch ist, ein Kennenlernen und keine Prüfung.

Ius Soli und eine neue Erinnerungskultur

Sich auf Augenhöhe begegnen – das wäre auch Sonia Casadeis Wunsch, wenn es um die Zukunft von Einbürgerungsprozessen und Bürger:innenrechten geht. «Ausländer:innen sind nichts Minderwertiges, das geprüft werden soll.» Ueli Mäder zielt in eine ähnliche Richtung, er wünscht sich unter anderem mehr Begegnungen auf Augenhöhe und «Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmung anderer Lebensrealitäten». Barbara Gysi plädiert für das Ius soli, also die Staatsbürgerschaft als Geburtsrecht.

Lejla Medii packt die Zukunft grundsätzlicher an. Sie wünscht sich eine Erinnerungskultur, die aufhört, die Schweiz zu glorifizieren. «Menschenrechtsrelevante Verträge sollen aus ehrlichen Gründen ratifiziert werden, nicht aus wirtschaftlichen», forderte die Juristin. Ihre Einbürgerung – um wenigstens noch eine positive Geschichte zu bringen – verlief übrigens recht reibungslos. In Rorschach hat sie beim Einbürgerungsgespräch damals niemand auf ihr Kopftuch oder ihre Religion angesprochen.

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