, 24. August 2023
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Leben in der «city beautiful»

Chandigarh, die Idealstadt von Le Corbusier in Indien, spielt die Hauptrolle im Dokfilm von Thomas Karrer und Karin Bucher. «Kraft der Utopie» erkundet die Stadt und fragt, was 70 Jahre später vom Ideal übrig geblieben ist. Heute ist St.Galler Premiere.

Die indischen Gesprächspartner können es kaum fassen, als ihnen die Filmemacher die Schweizer Zehnernote in die Hand drücken: «Ihr» Le Corbusier, «ihre» Stadt ist darauf abgebildet. Ihre «city beautiful».

Es ist eine von vielen lebendigen Begegnungen im Film. Filmemacher Thomas Karrer und Szenografin Karin Bucher, im Trogener Palais Bleu zuhause, bewegen sich mit offenen Augen durch die Stadt. Deren Magie hat sie 2012 gepackt und nicht mehr losgelassen: Über mehrere Jahre, zum Teil gebremst durch die Pandemie, haben Bucher und Karrer insgesamt rund ein halbes Jahr in Chandigarh gelebt und gefilmt. Und die Faszination blieb und wuchs.

Chandigarh? Das ist die Stadt, die der Schweizer Architekt Charles-Edouard Jeanneret, besser bekannt als Le Corbusier, auf dem Reissbrett entworfen hat und die in den 1950er Jahren im nordindischen Bundesstaat Punjab buchstäblich aus dem Boden gestampft wurde, eine Modellstadt mit Gebäuden, die teils längst zu Ikonen des modernen Bauens geworden sind.

Das Parlamentsgebäude in Chandigarh.

Für Stadtaktivist G.S. Channi ist Chandigarh der Ort des «freedom of space». Für Deepika Gandhi, die Direktorin des Corbusier-Centers, ist die Stadt eine Oase der Zeit. Freier Raum, freie Zeit, verkörpert in einer humanen, gerechten und harmonischen Stadt: Das ist der hohe Anspruch, den Le Corbusier und seine Mitstreiter:innen in der indischen Retortenstadt verwirklichen wollten.

Karrer und Bucher rufen diesen staunenswerten Ort, dieses kühne soziale und städteplanerische Experiment vielstimmig in Erinnerung. Und sie wollen wissen: Was ist daraus 70 Jahre später geworden?

Licht und Farbe

Eindrücklich zeigt der Film, was ein zentraler Aspekt der Idealstadt ist: das Licht. Die Kamera fängt die hellen Wände ein, die spielerischen Durchbrüche im Beton, viel Grün, viel Himmel. Sie verneigt sich vor den Repräsentativbauten des Capitol Complex, vor dem eleganten Brutalismus, den «Corbu» hier auf seinen Höhepunkt getrieben hat. Sie würdigt aber auch die nicht minder detailgenau gestalteten Wohnbauten in den weniger spektakulären Sektoren der Stadt.

Chandigarh ist im Film die «Stadt nach menschlichem Mass»: Das gilt für das Licht, aber auch für den Verkehr, der auf Fussgängertempo ausgerichtet ist. Strassen und Quartiere sind durch unterschiedliche Blumen und Farben gekennzeichnet, jeder Baum ist nummeriert, fällen verboten.

Ruhig, langsam, harmonisch, so sei Chandigarh, sagt Deepika Gandhi beim Joggen am See, den Le Corbusier als erstes hatte anlegen lassen, als er den Auftrag der Regierung bekommen hatte.

Das Indien, das man sonst zu kennen glaubt, scheint hier weit weg. Eine halbe Stunde rund dauert es, bis im Film die erste heilige Kuh eine Strasse quert, nochmal eine halbe Stunde, bis der Monsunregen ins Bild prasselt. Der Film schwelgt in Farben, in hoch ästhetischen Architekturaufnahmen, in stimmungsvollen Details, er lässt sich anstecken von der Begeisterung, mit der die meisten Gesprächspartner im Film ihre Stadt loben.

Im Korsett der Perfektion

Die Schattenseiten verschweigen Karrer und Bucher dennoch nicht. Der Präsident der Kunstakademie etwa schildert, wie ihn als jungen Künstler die durchgeplante Stadt schockiert und ihn sich selber entfremdet hatte. Und Architekt Siddharta Wig kritisiert die Auswüchse einer Planung, die jede Veränderung im Korsett ihrer Musterhaftigkeit zu ersticken droht.

So ist seit 1995 ausgerechnet das Herzstück (oder in Le Corbusiers «Modulor»-Idealplan: der Kopf) der Hauptstadt, der Capitol Complex, für die Einwohner:innen selber gesperrt und nur noch mit Führungen zugänglich. Die Immobilienpreise schnellen im umgrenzten Plangeviert in die Höhe. Und stellenweise bröckelt der alte Beton – aber abreissen geht nicht: Das «Edikt von Chandigarh», Le Corbusiers Vermächtnis, schreibt den Schutz der architektonischen Grundzüge für alle Ewigkeiten fest.

Architekt Le Corbusier mit dem Plan der Stadt.

So würden Veränderungen erschwert bis verunmöglicht, kritisiert Architekt Wig. Insbesondere verhindere das Edikt ein verdichtetes Bauen – eine der Folgen ist, dass am Rand der für 500’000 Personen geplanten heutigen Millionenstadt Slums entstanden sind, während die Innenstadt zum «Museum» zu werden drohe.

Protest mit der Clownnase

Chandigarh, das planerische Paradox: Auf der einen Seite steht der Anspruch an eine menschengerechte Stadtplanung und -entwicklung, auf der anderen der absolutistische Gestaltungswille des Stararchitekten, der sich mit der Stadt ein Denkmal setzen wollte. Le Corbusiers Nähe zum Faschismus im Zweiten Weltkrieg und seine Sympathien für eine Tabula-rasa-Stadtplanung bleiben im Film allerdings ausgeblendet.

Dafür rufen Zeitdokumente die Entstehungsjahre der Stadt und deren Bau mit einfachsten Mitteln in Erinnerung oder geben Einblick in das Denken von Staatspräsident Jawaharlal Nehru, der Indien nach dem Ende der Kolonialherrschaft und nach der Teilung des Landes hin zum Westen führen wollte, mit Chandigarh als Symbol des Bruchs mit den Traditionen.

«Kraft der Utopie»: ab 24. August im Kino. Heute um 20 Uhr Premiere im Kinok St.Gallen mit Karin Bucher und Thomas Karrer

kinok.ch

kraftderutopie.ch

Die Frage, was von Chandigarh heute zu lernen wäre, bleibt im Film am Ende offen. Er bringt die Crux der Idealstadt einmal auf den Punkt: Der Mensch lässt sich nicht gern vorschreiben, wie er zu leben hat. Am Ende zeichnet die Stadt ebenso wie den Film nicht die Perfektion aus, sondern die Eigenwilligkeit und Vitalität der Protagonist:innen – Menschen wie (der 2021 verstorbene) Stadtaktivist Channi, der im Film mit der roten Clownnase Passanten in seine Spielereien verstrickt und seine Arbeit als Protest gegen die Allmacht der Bürokraten verstand.

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