, 21. April 2023
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Literarischer Blick auf die Freimaurerei

Doppeladler, Malzerschaufeln und der älteste Schädel der Menschheit: Gion Mathias Caveltys Legende Innozenz und der jüngst erschienene Roman Lucifer.

«Ein rätselhafter Autor, der die Schweizer Literatur auf den Kopf stellt», sagt der SRF-Literaturclub. (Bild: pd)

Der Schriftsteller Gion Mathias Cavelty (*1974 in Chur, lebt in Zürich) macht aus seiner Mitgliedschaft bei den Freimaurern kein Geheimnis. Er erlangte die drei Grade der blauen Johannismaurerei – Lehrling, Geselle und Meister – und trat dann in das Hochgradsystem des AASR ein, des Alten Angenommenen Schottischen Ritus. In demselben wurde er zum Ritter vom Osten und Westen (17°), zum Ritter vom Rosenkreuz (18°) sowie zum Ritter Kadosch (30°) geschlagen und schliesslich zum Meister des Königlichen Geheimnisses (32°) berufen. Der 32. Grad bildet den Schlussstein des Lehrgebäudes vom AASR.

Freimaurer arbeiten mit Symbolen, jeder Grad hat seine eigenen. Diese Symbole werden seit der Aufklärung, jener Epoche, in der die moderne Freimaurerei 1717 in London gegründet wurde, verwendet. Sie reichen aber bis in die mittelalterlichen Zünfte der Steinmetze zurück, greifen auch Elemente aus der Alchemie, der Kabbala, der Gnosis sowie den Erzählungen um die Tempelritter auf. Es sind dies Symbole wie Zirkel und Winkelmass, Meissel und Fäustling, die Wasserwaage, das Senkblei, Sonne und Mond, die Rose, der Pelikan, der Doppeladler oder das verlorene Wort…

Gion Mathias Cavelty im Freimaurerornat. (Bild: pd)

Diese und viele weitere Symbole kommen in den Freimaurerlogen in Initiationsritualen zum Zug, welche, wie Jan Assmann in seiner Studie «Religio duplex – Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung» nachgewiesen hat, Momente aus den mithräischen, griechischen und altägyptischen Mysterien wachhalten.

Auf den Spuren des Inquisitors

Ein Tummelfeld und eine Spielwiese muss dieses masonische Paralleluniversum einem gewieften Autor wie Gion Mathias Cavelty bieten, der seine ironische Kraft und ungezügelte Fabulierlust bereits mit dem augenzwinkernden Ratgeber Endlich Nichtleser (2020) oder dem verblüffenden Roman Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete (2017) unter Beweis gestellt hat. Caveltys Diptychon Innozenz (2020) und Lucifer (2022) ergänzen sich wie die weissen und schwarzen Quadrate auf einem musivischen Pflaster.

Die Legende Innozenz beginnt mit dem weissesten Weiss, das man sich vorstellen kann, mit einem unbeschriebenen «Buch, in dem NICHTS steht», mit der reinen Unschuld, der totalen Unbeflecktheit, und endet mit 22 schwarzen Seiten, auf denen «ALLES steht. Also alle Lügen. So deutlich, dass auch der Blinde sie lesen kann.»

 

In der Tat hat Cavelty diese Legende aus der Perspektive eines Buches geschrieben, das den Odilianer Innozenz begleitet, einen Inquisitor und Anbeter der Heiligen Odilie (660–720; ein Wunder soll der Blindgeborenen das Augenlicht geschenkt haben), und zwar auf seiner vom Papst angeregten Quest nach Adams Schädel, dem ältesten Schädel der Menschheit.

Don Promillo und der goldene Ritter

Der Weg des Antihelden Nogg aus Lucifer hingegen beginnt am «11. November 1111» (Zahlenmystik!) im düsteren Chur, wo er, einem Nöck gleich, im Wasser vom Martinsbrunnen geboren wird. Der rüde Besitzer der Calanda-Brauerei, der «Piarkönig (Bierkönig) Don Promillo», fischt das Knäblein aus dem Wasser und beschliesst, es nicht zu verzehren (!), sondern «als künftige Gratis-Arbeitskraft» seinem Betrieb einzuverleiben. Dort wird Nogg, herangewachsen, von den anderen Lehrlingen fürchterlich geplagt:

Das begann schon um 6 Uhr in der Früh, indem sie ihn zum Zmorga (Frühstück) mit literweise Bier abfüllten; dann prügelten sie ihn mit Maischkrücken und Malzerschaufeln windelweich und walzten ihn mit Fässern platt (…). Auch in der Nacht gönnten sie ihrem Opfer keine Ruhe und spritzten es auf seiner Pritsche im Massenschlag regelmässig mit Bierschaum voll. / Was sollte Nogg anderes machen, als sich zu sagen: «Da muss es noch etwas Grösseres geben!»

Gion Mathias Cavelty: Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete – Ein höchst fiktiver Roman. Lectorbooks. Zürich 2017

Gion Mathias Cavelty: Endlich Nichtleser. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000

Gion Mathias Cavelty: Innozenz – Legende. Lectorbooks, Zürich 2020

Gion Mathias Cavelty: Lucifer – Roman. Lectorbooks, Zürich 2022

Ja – da muss es doch noch etwas Besseres geben, freilich! So macht sich Nogg, inspiriert von der Erscheinung eines «goldenen Ritters», auf nach Jerusalem. Dort tritt er dem Orden der Tempelritter als «Lichtputzer» bei. Seine Aufgabe ist es, die Lichter im Tempel zu regeln. Später mutiert Nogg zum Ritter Ard de Saint Martin, der nach der verlorenen Silbe des Weltalphabets sucht, ohne die «das Himmlische Jerusalem nicht entstehen kann». Er endet, nach der Überwindung der digitalen Welt von «Cyber-Jerusalem», im blendenden Licht eines allverzehrenden Feuers: «Und jetzt: Brenne, unerschrockener Tempelritter! (…) / Denn das ist dein Name: ARDEBO! / Das bedeutet: ICH WERDE BRENNEN.»

Gion Mathias Caveltys Roman Lucifer durchmisst Zeiten und Räume, lagert sie oft im selben Satz übereinander, sprachschöpferisch und äusserst fantasiereich. Die sich überstürzende Handlung wird in kurzen süffigen Kapiteln voller Aberwitz erzählt. «Lucifer» ist eine Art Monti-Python-Persiflage auf das freimaurerische Hochgradsystem des AASR und zugleich der Ausdruck einer genauen Kenntnis desselben – und seiner Mitglieder. Auf letztere wird ein liebevoller, aber durchaus nicht unkritischer Blick geworfen. Eine unterhaltsame und zugleich lohnende Lektüre!

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