Saiten im November: Plusminus 40
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«Mir ist das Denken in Kategorien wie der <Generation> fremd. Wenn es darum geht, was ich erreicht habe und was nicht, dann nehme ich erst mal mich selber an der Nase und nicht meine Generation.»
«Siehst Du: Das ist ja genau typisch für deine Generation.»
So etwa tönte er, einer der Dialoge auf der Saiten-Redaktion, bei den Voraus-Diskussionen um das Titelthema dieses Hefts. Stimme eins ist Jahrgang 1957, «Babyboomer». Stimme zwei ist Jahrgang 1976, «Generation X». Trotzdem war man sich bald einig: Das Thema lohnt eine genauere Betrachtung. Aber nicht «die Jungen» und auch nicht «die Alten» sollten im Mittelpunkt stehen, sondern jene merkwürdige Generation zwischendrin, etwa die Jahrgänge 1965 bis 1980. Anders gesagt: die Leute plus minus vierzig. Generation privilegiert? Generation ratlos? Auf jeden Fall: Generation Sandwich, eingeklemmt zwischen den je zahlenstärkeren Jahrgängen davor und danach und zwischen dem analogen und dem digitalen Zeitalter.
Für Saiten haben sich zwei Frauen und zwei Männer mit X-Jahrgang an einen Tisch gesetzt und einen Abend lang diskutiert – freimütig, subjektiv und pointiert. Moderation und Protokoll besorgte Saiten-Redaktorin Corinne Riedener, halbwegs Generation Y. Patricia Holder steuert zum Thema theoretische Überlegungen bei, und die real existierende Generationenfrage beleuchtet unsere augenzwinkernde Saiten-Liste: 100 Personen samt Jahrgang, die in der Ostschweiz aktuell am Drücker sind. Das Ergebnis vorweg, nicht überraschend: Das Sagen haben überwiegend Männer ab fünfzig.
Allerdings: «Der Drücker! Da war ich ja noch nie…», schreibt Claudia Rüegsegger, eine der auf der Liste figurierenden Kulturtäterinnen. Und wendet ein: «Ist das nicht der Ort, wo man sich spätestens in meinem Alter langsam fragen muss, ob man da eigentlich mal hätte hinkommen wollen? Wer jetzt noch nicht dort ist, für den ist es zu spät … Und ist meine Generation nicht diejenige, die immer ein bisschen zu spät oder zu früh ist? Sich jedenfalls nicht besonders breit macht am Drücker? Oder ist das nur meine Geschichte und in meinem Umfeld häufen sich ähnliche? Der Drücker war mir immer eher suspekt. Für mich ist es also nichts als folgerichtig, davon ziemlich weit entfernt zu guslen.»
Stimmt schon: Karriere ist nicht alles, und jede Generation stemmt ihre Probleme. «Was tun?» Der Titel, den der St.Galler Theatermacher Milo Rau über seinen eben erschienenen Essay «Kritik der postmodernen Vernunft» gesetzt hat, gilt im Grunde für alle Jahrgänge. In dieser Saiten-Ausgabe kommen jedenfalls alte wie ganz junge Stimmen zu Wort. Von vorn bis zuhinterst, wo Saiten-Kolumnistin Dorothee Elmiger als «Spätergeborene» zurückblickt auf kollektiv bewegte und geheimnisumwitterte frühere Zeiten.
Im Ganzen, kommt es uns vor, ein melancholisches Heft. Passt zum November.
Peter Surber, Corinne Riedener
DER INHALT:
REAKTIONEN
POSITIONEN
Blickwinkel von Elias Raschle
Redeplatz mit Brigitta Beglinger
Einspruch von Tim Rüdiger
Stadtlärm von Andreas Kneubühler
Dreimal Schande: Lampedusa, rechte Drohungen und falsche Zahlen
PLUS MINUS 40
Mit einem blauen Auge davon gekommen
Vier Menschen kurz vor vierzig sprechen über Jugend, Lebensentwürfe, Laufbahnen und die ältere und jüngere Konkurrenz, die den Platz für sich beansprucht.
von Corinne Riedener
Niemand gehört zu einer Generation
Wieso es egal ist, wie alt jemand ist und warum uns das Denken in Generationen trotzdem beruhigt.
von Patricia Holder
Welche Generation ist am Drücker?
Die Saiten-Liste der einflussreichen Ostschweizerinnen und Ostschweizer. Samt Jahrgang.
von Peter Surber und Harry Rosenbaum
PERSPEKTIVEN
Flaschenpost aus Berlin von Wendelin Brühwiler: aus der Redaktion der europäischen Kulturzeitschrift Lettre International.
Appenzell
Winterthur
Rheintal
Toggenburg
Stimmrecht von Gyatso Drongpatsang
REPORT
Missverstandene Frauenversteher
Pickup-Artists üben sich im Aufreissen und Flachlegen. Ein Seminarbericht.
von Corinne Riedener
KULTUR
Auf den Wanderstrassen der Kultur
Ein Hamburger Künstlerkollektiv bringt Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne nach St.Gallen.
von Wolfgang Steiger
Theater: Max Frischs Fragebögen I–XI in der Lokremise.
von Peter Surber
Musik: Postpunker Edwyn Collins kommt nach Dornbirn. Endlich.
von Marcel Elsener
Literatur: Über globalisierte Beliebigkeit im Thurgau wie in Paris. Eine Verortung.
von Jochen Kelter
Film: Gesucht und nicht gefunden: ein Endlager für Atommüll. Der Dokumentarfilm des Basler Regisseurs Edgar Hagen.
von Geri Krebs
Kunst: Joseph Felix Müller und sein Verlag vexer erhalten den Anerkennungspreis der Stadt St.Gallen.
von Corinne Schatz
Herbert Maeders Kinderfotos.
von Hanspeter Spörri
Weiss auf schwarz von Manon
KALENDER
ABGESANG
Kellers Geschichten
Bureau Elmiger
Charles Pfahlbauer jr.
Boulevard