Porträt einer Zwangsneurotikerin

Man kennt das, der Klassiker ist Mani Matters Lied vom Zündhölzli: ein Missgeschick läuft im Kopf aus dem Ruder, die Gedanken spinnen es weiter – was wäre wenn? Was hätte alles geschehen können? Am Ende steht bei Mani Matter der Weltuntergang – «und d’Mönschheit wär jetzt nümme da».
Bei Tanja Kummer kommt es nicht ganz so schlimm, zumindest damals am Weihnachtsabend vor einem Jahr nicht: Die Ich-Erzählerin hat am familiären Festtisch ein paar Weingläser umgeworfen, die Scherben splittern, Töchterchen Lili tritt mit dem Fuss hinein, einer kehrt die Scherben zusammen, doch jetzt rattert die Panik: Was, wenn sich die Splitter ins Schoggimousse und den Fruchtsalat verirren? Wenn die kleine Lili einen davon in den Hals bekommt? Wenn es bleibende Schäden gibt? Mutter bringt ihre Familie um… es ist der Horrortrip jeder treusorgenden Mama.
Bloss ist Martina Ortolfi mehr als bloss eine normal besorgte Zeitgenossin – sie ist ein Bündel von Sorgen, eine Grossmeisterin der Ängste: Die Gedanken «drehten und drehten wie eine Spirale, eine Abwärtsspirale, sie wurde enger, ich kriegte kaum noch Luft, mein Herz begann zu hämmern, ich versuchte, auch durch die Nase Luft zu holen, aber auf einmal konnte ich nicht mehr atmen…».
Mit «Calmis» gegen die Ängste
Es ist der Abend, an dem Martina beginnt, «Calmis» zu schlucken. In Wahrheit hatte, wie man später erfährt, das Kontroll- und Angstsystem schon Jahre zuvor seinen Anfang genommen: in der Nacht nach der Geburt des Töchterchens. Da wurde ihr «mit einem Schlag bewusst, wie fragil das Leben ist». Was, wenn ich sie fallen lasse? Was, wenn ich das falsche Medikament erwische oder die falsche Dosierung, wenn sie allergisch ist, wenn ich sie langsam vergifte… Von da an lassen sich die Sorgenmonster nicht mehr vertreiben. Und im Lauf der Jahre findet Martina immer mehr Dinge und Menschen, die man kontrollieren kann. Herd ausgemacht? Ablaufdatum in Ordnung? Kabel ausgesteckt? Ihr Kopf: «ein Museum, in dem eine Dauerausstellung zum Thema ‚Schlimme Bilder‘ gezeigt wird.»
Tanja Kummer: Sicher ist sicher ist sicher, Zytglogge Verlag Basel 2015, Fr. 32.-
Lesung: 5. November, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia St.Gallen
So spitzt sich die Lage zu bis zum diesjährigen Weihnachtsfest, an dem Martina es der Familie zeigen will, dass sie in Ordnung ist, dass sie ein Fest ausrichten kann wie ihre perfekte Mutter, dass sie alles unter Kontrolle hat. Die Komplikationen sind beträchtlich, die Autorin malt sie genüsslich und mit Detailverliebtheit aus. Bloss eine lässt sich nicht kontrollieren. Sofie, die Grossmutter, eigenwillig, widerborstig, ist drei Tage vor Weihnachten plötzlich verschwunden. Und offensichtlich nicht allein, sondern mit Statler. Mit dem grauhaarigen Herrn aus der Muppetshow. Mit einer Puppe.
Spitzen gegen den Literaturbetrieb
Tanja Kummer, Lyrikerin, Autorin eines Thurgau-Buchs und Spoken-Word-Künstlerin, zeichnet in ihrem ersten Roman das alltagsnahe und zugleich surreale Porträt einer Zwangneurotikerin. Und einer Familiengesellschaft, die auf Harmonie und bürgerlichen Schein gebaut ist. Da passt eine wie Sofie ebenso wenig hinein wie Martina – zumindest bis ihr Alltag ganz ausser Kontrolle gerät. Und den anderen endlich die Augen aufgehen, allen voran Sofie: «Ich wusste, mit dir stimmt etwas nicht, jetzt erzähl mal!»
Neurotisch belastet ist auch das Nebenthema dieser Geschichte: der Literaturbetrieb. Martina ist Buchhändlerin, das Weihnachtsgeschäft brummt oder sollte brummen, eine Autorinnenlesung wird zur Minitragödie, und um die aktuelle Literatur steht es alles andere als gut. Der neue Roman der neuen Starautorin ist todlangweilig, nur: Darf man das als Buchhändlerin sagen? Erst recht, wenn man ihn noch gar nicht gelesen hat?
Was man als Kritiker (auch der kommt im Buch nicht gut weg) im Fall von Tanja Kummers Roman Sicher ist sicher ist sicher sagen kann: Langweilig ist er auf keinen Fall.