«Lohnerhöhungen schaffen mehr Arbeitsplätze»

Zum Tag der Arbeit: Gewerkschafter Dominik Dietrich aus St.Gallen über Mindestlöhne und die schöne neue flexible Arbeitswelt.
Von  Peter Surber

Dominik Dietrich, am 18. Mai ist Mindestlohn- Abstimmung. Landesweit würden rund 330’000 Personen von einem Ja profitieren, heisst es. Wie viele sind es in der Ostschweiz, die ja eher ein tieferes Lohnniveau hat als zum Beispiel Zürich?
Das weiss ich nicht genau. Sicher ist, dass vor allem Frauen betroffen sind, Angestellte im Detailhandel oder bei Billigladenketten. Da hat die Initiative auch vorauseilend bereits gewirkt: H&M, Aldi, Lidl oder Denner haben die Löhne erhöht. Auch wenn es ein Nein gäbe, hätten wir bereits einige Siege errungen.

Wo sind die Löhne am schlechtesten?
Generell gesagt: in der Gastronomie und im Detailhandel. Ein Negativ-Beispiel ist aber auch Presto, ein Unternehmen für die Frühzustellung. Das ist eine hundertprozentige Post-Tochter, aber sie zahlt miserable Löhne, der Stundenlohn liegt bei 17.50 Franken. Das dürfte die Post nicht zulassen.

Kritisiert wird, dass eine starre Lohnlimite von 22 Franken pro Stunde nicht sinnvoll sei, weil es grosse regionale Unterschiede gebe.
Von den Gegnern kommen immer die gleichen Argumente: zuallererst die Drohung, es gingen Arbeitsplätze verloren. Aber die Entwicklung der letzten Jahre im Detailhandel zeigt das Gegenteil – dort gab es Lohnerhöhungen, und es entstanden zugleich mehr Arbeitsplätze. Wenn die Leute mehr verdienen, steigt die Kaufkraft; dieses Argument wird von den Gegnern immer unterschlagen.

Die Arbeitswelt verändert sich rasant, man arbeitet flexibel und mobil statt zu fixen Arbeitszeiten und am festen Arbeitsplatz. Langfristig wird damit doch die Idee eines fixen Stundenlohns fragwürdig.

Diese Veränderungen gibt es, aber sie gelten nicht für die Leute, die zu Löhnen unter dem Mindestlohn oder gar an der Armutsgrenze arbeiten. Wir reden hier nicht von Ärzten mit ihren langen Arbeitszeiten, auch nicht von Kaderleuten und freien Berufen.

Aber reden wir von uns: Dass sich Arbeit und Freizeit immer mehr durchmischen, ist in vielen Berufen eine Tatsache – auf diesen Trend zur 24-Stunden-Gesellschaft hat die Initiative keine Antwort.
Was sich da abzeichnet, ist in meinen Augen eine Katastrophe. Beispielsweise die Tankstellenshops: Die Liberalisierung der Öffnungszeiten trifft gerade jene Angestellten, die heute unter dem Mindestlohn arbeiten. Vielerorts werden Arbeitszeiten ausgedehnt bei gleichem Lohn.

Bei der Gewerkschaft können Sie persönlich vermutlich auch nicht eine 40-Stunden-Woche fix einhalten?
Nein, gerade bei Kampagnen wie jetzt oder damals beim Kampf gegen die Schliessung von Swissprinters St.Gallen machen wir natürlich Überstunden, aber die können wir kompensieren. Was das Einkaufsverhalten betrifft – ich habe zwei Abstimmungskämpfe gegen liberalisierte Ladenöffnungszeiten mitgemacht und bin überzeugt: Niemand ist darauf angewiesen, dass er 24 Stunden lang irgendwo einkaufen kann. Da braucht es den Kampf auf politischer Ebene.

Ihre Alterskollegen sehen das sicher anders. Flexibles Arbeiten bringt auch Freiheiten.
Ja, im Freundeskreis laufe ich an eine Wand. Man geht um elf in den Ausgang und kauft nachts am 24-Stunden-Shop ein. Man bestellt Dinge am Computer und lässt sie sich zuschicken. Und man bezahlt in der Migros am Scanner. Ich sehe das mit Beunruhigung – am Ende sitzt niemand mehr an der Migroskasse, es sind Arbeitsplätze verloren gegangen und auch ein Stück Einkaufsqualität. Da braucht es Bewusstseinsarbeit. Gerade über diese Scanner habe ich mit Bekannten geredet, und das hat etwas bewirkt. Aber viele sind blind oder denken nicht an die Folgen und Zusammenhänge. Wie beim Mindestlohn, da sagt sich mancher: Ich verdiene ja genug, was soll ich mich da um das Thema kümmern …

Sie glauben, dass man da etwas ändern kann?
Ich bin überzeugt, dass wir ein Umdenken hinbringen müssen, sonst laufen wir in eine schwarze Zukunft hinein. In dem Mass, wie Automatisierung und Digitalisierung zunehmen, gehen Arbeitsplätze verloren, und damit schwächen wir wiederum unsre Sozialeinrichtungen. Ein Teufelskreis – ausgelöst durch jeden einzelnen von uns. Man muss sich selber an der Nase nehmen. Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Wenn wir geschlossen kämpfen, können wir viel erreichen. Wie beim Mindestlohn: Da ist, wie eingangs gesagt, schon vor der Abstimmung einiges passiert.

Dominik Dietrich, 1986, ist Regionalsekretär der Gewerkschaft Syndicom für die Region Zürich/Ostschweiz. Er lebt in St.Gallen.

Bild: Tine Edel