Im April: Saiten will Geduld haben

«Hallo. Ich bin sehr zaintereovana in, Sie kennenzulernen. Ich bin ein einziges Mädchen wirklich Liebe auf Vertrauen aufbauen wollen. Ich interessiere mich sehr für Sie. Ich hoffe, dass Sie nichts dagegen haben, mich zu treffen? Wenn Sie Interesse an einer ernsthaften Beziehung und wahre Liebe gibt Ich werde für Ihre Antwort zu warten.»
So wartet sie, Anastasiya aus einem Land mit kyrillischen Schriftzeichen, die sich kürzlich unbekannterweise per Mail gemeldet hat. Vergeblich. Aber ihre Wartebotschaft geht doch ans Herz. Und sie kam goldrichtig zum Thema dieses Hefts. Es beschäftigt sich mit ebendieser Tätigkeit, die uns allen vertraut, selten lieb und manch- mal verhasst ist, einer Tätigkeit beziehungsweise Untätigkeit, bei der nicht selten der wahre Charakter des Menschen so richtig zum Vorschein kommt: dem Warten.
Warum? Erstens weil Frühling ist, die hohe Zeit der Erwartung, des Hoffens, des Noch-nicht-ganz. Und zweitens weil, so unsere Annahme, das Warten eine aussterbende Tugend ist in dieser Epoche der optimierten Dauerselbstverwirklichung und des ökonomischen «Zeit ist Geld»-Imperativs. Nicht, dass es niemand mehr täte, denken wir etwa an die schier endlosen Warteschlangen vor den Apple Stores und Openair-Kassen dieser Welt, aber sind wir wirklich noch fähig, uns der Wartezeit auszuliefern, sie nicht nur als lästiges Handlungsvakuum abzutun?
Corinne Riedener hat sich dieser Frage im Selbstversuch gestellt, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Schriftstellerin Christine Fischer bringt das Thema auf den spirituellen Kontrapunkt: auf das Lob des Hier und Jetzt. Zudem porträtieren wir drei Personen, die existentiell oder beruflich dem Warten ausgesetzt sind. Die in St.Gallen lebende libanesische Zeichnerin Gina Nakhle Koller stellt sich passend zum Thema in die Schlange.
Fazit des riedenerschen Experiments: Verglichen mit dem Warten auf Leben und Tod, dem Flüchtlinge, Kranke oder auch die Anastasiyas dieser Welt ausgesetzt sind, ist unsere tägliche Ungeduld ein Luxusproblem. Darüber nachzudenken lohnt sich trotzdem – oder erst recht. Gelegenheit dazu hätten wir öfter, als uns lieb ist: beim Nicht-Einschlafen-Können, beim Essen auftauen, Tanken, Telefon- Tuten oder Staustehen – beim Warten eben. Wie die berühmtesten Wartenden der Moderne in Becketts Warten auf Godot:
Wladimir: Sag: Ich bin zufrieden.
Estragon: Ich bin zufrieden.
Wladimir: Ich auch.
Estragon: Ich auch.
Wladimir: Wir sind zufrieden.
Estragon: Wir sind zufrieden. Schweigen. Was sollen wir jetzt machen, da wir zufrieden sind?
Wladimir: Wir warten auf Godot.
Estragon: Ach ja.
Sonst im Heft: eine Erörterung der Problemzone «Bau» im Ausserrhodischen und dem grossen Kanton rundherum, eine Hommage posthum an Louis Ribaux und ein Kommentar zum neuen Knecht der St.Galler Theaterszene.
Peter Surber, Corinne Riedener
DER INHALT:
Reaktionen
Positionen
Blickwinkel von Katalin Déer
Redeplatz mit Hella Immler
Einspruch von Roman Rutz
Stadtpunkt von Dani Fels
Requiem auf einen Raum V
Corporate Responsibility
Warten
Ungeduldsvermutung
Gedanken zum Warten – und warum wir es heute verlernt haben.
von Corinne Riedener
Bloss nie die Disziplin verlieren
Die junge Mongolin Buudai Enkhbat wartet auf den Asylentscheid. Währenddessen versucht sie, beschäftigt zu bleiben.
von Sarah Schmalz
«Ich wartete auf den Sechser im Lotto»
Hunderte Menschen in der Schweiz warten auf ein Organ, manche bis zum Tod. Ineke Lambinon hatte mehr Glück.
von Urs-Peter Zwingli
Bereit sein für den Punkt X
Tubaspieler Karl Schimke braucht viel Geduld. Ein Porträt inklusive Warteschlaufe zu grossen Wartenden in Musik und Literatur.
von Peter Surber
Die Kunst des Hier und Jetzt
Warten auf die Geistesgegenwart.
von Christine Fischer
Die Songs zum Warten: Teil 1 & Teil 2
Perspektiven
Flaschenpost von Ursula Kiener aus Guatemala
Rheintal
Toggenburg
Winterthur
Appenzell Ausserrhoden
Report
Abbrechen und zubauen?
Bedrohte historische Dorfkerne, riesige neue Bauzonen: Die Baulobby lässt sich kaum bremsen.
von René Hornung
Kultur
Er fand es in Büchern
Zum Tod des St.Galler Buchhändlers Louis Ribaux.
von Hanspeter Spörri
Leben heisst angeredet werden
Auszug aus einem Vortrag von Louis Ribaux über das Lesen und das Leben.
Der lange Hall des Krieges
Meinrad Schades Fotografien vom Rand der Zerstörung.
von Katharina Flieger
Als das Fürstentum reich wurde
Die jüngere Geschichte Liechtensteins wird zum Theaterstück.
von Anita Grüneis
Verlust von Sprache
Der neue Roman von Christine Fischer porträtiert eine Demenzkranke.
von Peter Surber
Mit dem Dichter im Auto
Heinz Bütlers Film Merzluft folgt dem Schriftsteller Klaus Merz.
von Rainer Stöckli
Kampfansage mit Beats
Das neue Album von Shabazz Palaces bietet chic-bunten Afrofuturismus.
von Georg Gatsas
Lust und Last
Die Kulturlandsgemeinde Appenzell Ausserrhoden spürt dem Erben nach.
von Harry Rosenbaum
Ein schräger Zirkus
Das Karfunkel Kabinett macht Theater-Zirkus und hat keine Berührungsängste.
von Urs-Peter Zwingli
Abgesang
Kellers Geschichten
Bureau Elmiger
Ausblick: Zur Wahl von Jonas Knecht als Schauspieldirektor
Boulevard