Ich sehe Menschen, aber keine Menschlichkeit

Yonas Gebrehiwet ist vor vier Jahren von Eritrea in die Schweiz gekommen. Seine Oktober-Kolumne handelt vom Hass im Internet und von der angeblichen «Flüchtlingsflut» nach Europa.
Von  Yonas Gebrehiwet
Yonas Gebrehiwet (Bild: Ladina Bischof)

Wenn ich die Hasskommentare im Internet lese, frage ich mich, in was für einer fremdfeindlichen Gesellschaft wir eigentlich leben. «Wir trauern nicht, sondern wir feiern es.» Ein Flüchtling sei zu wenig. Das Meer habe schon mehr geschluckt, schrieb ein Deutscher auf Facebook zum Bild des dreijährigen Aylan aus Syrien, der auf dem Weg nach Griechenland ertrunken ist.

Kaum eine Woche war vergangen, da sah ich ein Video, in dem eine ungarische Reporterin auf Flüchtlinge eintrat. Ihre Aktion liess die ganze Welt nach Ungarn schauen: Verzweifelte Menschen versuchen, sich mit Kind und Gepäck vom ungarischen Röszke nach Serbien zu retten, stürmen auf die Grenze zu und werden aufgehalten – nicht von Grenzpolizisten, sondern von einer Kamerafrau. Zuerst tritt sie zwei Kinder, danach stellt sie einem Vater samt Sohn auf dem Arm ein Bein.

Die Videoaufnahmen aus Ungarn sorgten überall für Empörung – fast. Denn bei gewissen Kreisen hat die Kamerafrau auch Fans gefunden. Von Rechtspopulisten wird sie gefeiert: «Diese Frau hat mehr für ganz Europa getan als die EU», las ich auf einem einschlägigen Internetportal. Man müsse sie
auszeichnen, kommentierten die User. Sie sei «eine Heldin». Wieso so unmenschlich? Es sind doch Kinder, Frauen, Männer – Menschen wie wir –, die tagtäglich leiden. Sie wollen nichts anderes als ein ruhiges Leben. Eines, in dem sie nicht von Explosionen von Bomben aufgeweckt werden.

In Europa redet man von einer Flüchtlingsflut und fragt sich, warum alle hierher kommen. Hier die aktuellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) aus Syrien: 4’015’070 Menschen sind seit Beginn des Konflikts von dort geflohen. Die allermeisten in Syriens Nachbarstaaten, also in
den Libanon, nach Jordanien, in den Irak und die Türkei. Nur sechs Prozent kommen nach Europa – und weniger als zwei Prozent kommen schlussendlich nach Deutschland und in die Schweiz.

Es ist krass, wenn ein Land wie zum Beispiel der Libanon mit einer Fläche von nur 10’500 Quadratkilometern – viermal kleiner als die Schweiz – über eine Million syrische Flüchtlinge aufnimmt. Das sind enorme Zahlen. Hier in der Schweiz regt man sich über ein paar tausend auf.

Man will nicht, dass sie ertrinken.
Man will nicht, dass sie hierher kommen.

Was will man dann?

 

Yonas Gebrehiwet, 1996, ist mit 15 Jahren aus Eritrea in die Schweiz gekommen. Er wohnt in Rheineck und macht derzeit eine Ausbildung zum Textiltechnologen. Seit Frühling 2015 schreibt er monatlich die Stimmrecht-Kolumne für Saiten.