«Die Stadt könnte flexibler werden»

Pino Stinelli über den Strukturwandel in der Gallusstadt, hohe Ladenmieten und seine Idee von St.Gallen als «Stadt der digitalen Wirtschaft & Kultur».
Von  Corinne Riedener
Pino Stinelli, fotografiert von Tine Edel.

Saiten: Letzten Sommer hast Du die Facebook-Seite «Freie Ladenlokale St.Gallen» gegründet – wieso?

Pino Stinelli: Ich war schon immer stadtinteressiert und habe festgestellt, dass in St.Gallen immer mehr Ladenflächen verschwinden und vielfach auch lange nicht mehr neu besetzt werden. Eines Tages habe ich aus einer Laune heraus alle leerstehenden Lokale in der Innenstadt fotografiert – 35 waren es am Ende. Als dann noch Bilder aus meinem Bekanntenkreis hinzukamen, hatten wir in kürzester Zeit über 100 freie Ladenlokale zusammen.

Wie waren die Reaktionen?


Durchwegs positiv. Viele haben noch weitere Inputs geliefert und in den Kommentarspalten wurde – und wird nach wie vor – sehr angeregt diskutiert.

Ihr kritisiert die hohen, nicht mehr marktgerechten Mieten. Was bedeuten sie für das Stadtbild?

Bisher hat der Markt das ja hergegeben: Die Leute waren bereit, so hohe Mieten zu zahlen. Das Kleingewerbe und der Detailhandel sind jedoch seit längerem enorm unter Druck. Das hat unter anderem mit dem Wechselkurs zu tun, aber auch mit der Digitalisierung – viele kaufen heute lieber online ein. Durch diesen Strukturwandel verschwinden ganze Branchen aus dem Stadtbild: Plattenläden, Elektrofachhändler, Hi-Fi-Geschäfte, Schuhmacher und auch Konditoreien. Die «neuen» Geschäftszweige wie etwa Nagelstudios, Tattoo-Läden, CBD-Shops oder Handyreparatur-Geschäfte können das nicht auffangen. Kommt hinzu, dass auch grosse Konzerne, etwa die Migros, mit aus meiner Sicht grausligen Konzepten wie «Chickeria» das lokale Gewerbe noch mehr unter Druck setzen, weil sie sich ein grösseres Stück vom Gastro-Kuchen abschneiden wollen.

Warum werden die Mietzinsen nicht einfach gesenkt?


Gute Frage, denn angesichts des tiefen Hypozinses wäre es gar nicht mehr nötig, dass sie so hoch sind. Fakt ist aber, dass die Immobilien einen bestimmten Wert haben aufgrund der Nettorendite aus dem Mietwert. Darum zieren sich viele Hauseigentümer möglichst lange, den Mietzins zu senken, denn wenn der Zins tiefer ist, sinkt auch der Wert der Immobilie – was sich zum Beispiel auf die Höhe der Hypothek auswirken kann. Die Mieten werden aber auch gesenkt werden da und dort. Einige der Lokale auf unserer Facebook-Seite wurden in letzter Zeit neu ausgeschrieben, mit einem tieferen Mietzins von bis zu 20 Prozent. Und was ich auch aus eigener Erfahrung sagen kann: Es ist durchaus möglich, mit den Vermietern zu verhandeln. Wenn man auf die geänderten Marktumstände hinweist, sind sie vielfach bereit, einem entgegenzukommen – und sei das nur mit einer Zinssenkung auf Zeit.

Seit letztem Jahr gibt es das «Forum Zukunft St.Galler Innenstadt», wo man Massnahmen entwickeln möchte, wie man dem Strukturwandel und dem veränderten Einkaufsverhalten begegnen kann – versprichst Du dir etwas davon?

Grundsätzlich begrüsse ich es, dass das Problem erkannt worden ist und man etwas dagegen unternehmen will. Leider ist die Zusammenstellung der Beteiligten bei diesem Projekt etwas zu einseitig. Man hätte auch jene einladen können, die nicht unmittelbar in der Innenstadt beheimatet sind, aber trotzdem viel beizutragen hätten. Ein Wunsch, der kürzlich am dritten Forum formuliert wurde, ist die Flexibilisierung der Vorschriften. Wenn sich zum Beispiel jemand im Detailhandel vom Onlineversand abheben will und ein kleines Bistro im Laden eröffnet, sind die Bestimmungen dafür ziemlich streng. Es braucht sanitäre Anlagen, Behindertentoiletten und so weiter. Da könnte man seitens der Stadt flexibler werden, also Übergangs- oder Ausnahmebewilligungen ausstellen und diese zu einem späteren Zeitpunkt überprüfen und anpassen.

Kann es auch sein, dass sich die Situation von selber wieder einpendelt? Wenn alle Innenstädte gleich aussehen, sprich nur noch H&Ms und Juweliere beherbergen, will ja niemand mehr «go lädälä»…

Schon möglich, aber das würde vermutlich zu lange dauern. Ich kann mir zwar vorstellen, dass der Trend mittelfristig wieder zum Handwerk und zum Kleingewerbe geht, ähnlich wie in den «Hipster-Quartieren» anderer Städte, aber dafür braucht es auch eine gewisse Grösse… In St.Gallen fehlen uns ein paar Tausend Einwohner.

Und wenn man mehr in die Quartiere hinaus denken würde?

Daran glaube ich nicht. Der Trend zu Schlafquartieren wird noch weitergehen. Ich würde eher auf Start-up-Camps und Co-Working-Spaces im Zentrum setzen. Das sind attraktive Infrastrukturen, die zusätzliches Leben und Vielfalt in eine Stadt bringen.

Wie sähe Deine «St.Galler Vision» aus im Zug des generellen Strukturwandels?

Wir bräuchten unbedingt eine starke digitale Wirtschaft. Und eine entsprechende Ausbildungsstätte, die vom Programmieren bis zum Kreativen in diesem Bereich alles anbietet – das alte Zeughaus wäre perfekt dafür. Und es würde das Kreuzbleiche-Quartier extrem aufwerten…

Der Verein «IT St.Gallen rockt», der das Angebot von Aus- und Weiterbildungen im ICT-Bereich ausbauen will, wäre demnach eine gute Initiative?

Wenn man es richtig aufziehen würde, ja. Aber man kann nicht den Jungen etwas dauerhaft schmackhaft machen wollen, indem man zum Beispiel eine Band wie The Young Gods zum Auftakt einlädt, die vor allem die ältere Generation anspricht. Es braucht mehrere Leuchtturmprojekte im digitalen Bereich: zum Beispiel alle zwei Jahre ein elektronisches Kunst- & Musikfestival, über die Region ausstrahlende Ausbildungsstätten im digitalen Bereich und fixe Institutionen im Bereich digitales Wissen, die an die Wissens-Kultur der UNESCO-Weltkulturstadt anknüpfen. St.Gallen hätte sehr wohl das Potenzial, sich als «Stadt der digitalen Wirtschaft & Kultur» zu positionieren, denn in unserer Gegend hat es schweizweit am zweitmeisten ICT-Jobs. Diesbezüglich bräuchte es eine aggressive Standortförderung – damit die jungen, kreativen und innovativen Firmen nach St.Gallen kommen.

facebook.com/Freie.Ladenlokale.St.Gallen

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.