Das haben Sie schön gesagt!
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Nicht nur die CVP scheint sich dafür zu interessieren, was eine «gute» Ehe ist. Zwischen dem konservativen Weltbild der Familieninitiative und postmodernen Gemeinschaftsformen ist die Ehe gegenwärtig so aufgeladen, dass sie auch für die Bühne interessant ist.
Aber das ist natürlich nichts Neues: Die Konflikte, die sich an der Liebe und ihren Verwirrungen entzünden, haben im Theater seit jeher Konjunktur. Keine Überraschung also, dass auch viele zeitgenössische Stücke von glücklichen und meist weniger glücklichen Eheleuten bevölkert sind. Es wird betrogen, verletzt und ausgehalten. Aber das selten so klug und entrückt und hintersinnig wie in Iwan Wyrypajews Illusionen.
Das ist selbstverständlich ein Witz
Das Stück des russischen Dramatikers ist ein leiser, unaufgeregter Geniestreich. In seiner Form kommt es simpel daher: Vier junge Leute erzählen in langen Monologen die Geschichte von zwei alten Ehepaaren, beide über 80, beide seit Jahrzehnten verheiratet. Es ist eine Geschichte über wahre Liebe, über Freundschaft, über suspekte Himmelserscheinungen und über die quälende Unbeständigkeit des Lebens.
Die Geschichte, die von den jungen Leuten erzählt wird, beginnt mit dem hochbetagten Danny. Dieser liegt im Sterben und lässt nach 50 Jahren Ehe in einem vor Dankbarkeit triefenden Monolog vor seiner Frau Sandra noch einmal ihre gemeinsame Liebe Revue passieren. Für einen Stückanfang eine ziemlich grosse Ladung Pathos. Aber der ist schon nach wenigen Sätzen verpufft: Denn Sandra wiederum gesteht wenig später Albert, dem besten Freund ihres verstorbenen Mannes, dass sie nicht Danny, sondern nur ihn geliebt habe.
Und das ist erst der Anfang. Albert, dem Sandras Geständnis den Kopf verdreht hat, glaubt nun seinerseits, sein Leben lang nur diese geliebt zu haben. Als er seiner Frau Margret das gesteht, erfindet diese wiederum kurzerhand eine Affäre zwischen ihr und Danny. Das komplexe Verwirrspiel, das schlingernd um die «wahre» Liebe kreiselt, nimmt seinen Lauf.
Das Stück ist aber mehr als ein Sommernachtstraum mit hochbetagten russischen Rentnern. Der Text zeigt gleichzeitig, wie fragil eine Lebensgeschichte ist. Wie einfach sie umgeschrieben oder neuerzählt werden kann und wie schnell Fakten und Fiktion ineinander kippen. Denn nicht nur die Alten in der Geschichte haben sich anscheinend nicht immer die Wahrheit gesagt. Man weiss nie genau, ob man nicht auch von den jungen Erzählern an der Nase herumgeführt wird. Hat wirklich jemand Krebs? Sind die tatsächlich Geschwister? Hat die sich wirklich stundenlang im Schrank versteckt? Schnell verliert man sich auch als Zuschauer in Wyrypajews Illusionen.
Minimale Mehrfach-Bühne
Was passiert nun, wenn einer wie Stephan Roppel dieses leise, kluge Stück in die Hand nimmt, der jahrelang die Zürcher Winkelwiese geleitet hat und dem für die Leitung des Dramenprozessors (die Schmiede der Schweizer Nachwuchsdramatik) der Schweizer Theaterpreis verliehen worden ist? Roppel stellt Wyrypajews Text in das Zentrum seiner Inszenierung. Er lotet seine Facetten aus und sucht nach den feinen Zwischentönen. Darin ist die Inszenierung stark. Den Rest aber reduziert sie auf ein Minimum.
Für das Bühnenbild hat Petra Strass die Lokremise vervielfacht: In der Mitte der leeren Bühne steht auf einem Tischchen ein Modell der selben leeren Bühne (inklusive flacher Pappe-Figuren), und im Verlauf des Stücks werden hohe, schwere Kuben auf die Bühne geschoben, die die Struktur der Wände aufnehmen.
So wie die Geschichte der Alten mit jeder neuen Wendung und Verwirrung brüchiger wird, so beginnt sich auch der Raum aufzulösen. Dieses doppelte «mise en abyme» ist visuell schön, metaphorisch aber etwas plump.
Schleichen und sprechen
Und vor allem wird der Raum von den vier Erzählerinnen und Erzählern, Andrea Haller, Boglárka Horváth, Matthias Albold und Marcus Schäfer, kaum bespielt. In bürgerlichem Look (als präsentierten sie die neuste Kollektion von Mode Weber) schleichen sie in choreografierten Gängen über die Bühne, sinken in Zeitlupe in sich zusammen, imitieren manchmal Bewegungen der Anderen, schauen aber meistens einfach der Person zu, die gerade erzählt. Um das Erzählen soll es offensichtlich gehen, irgendwelche Ablenkung davon lässt der Roppelsche Minimalismus gar nicht erst zu.
Lokremise St.Gallen, weitere Vorstellungen bis 6. März. theatersg.ch
Man merkt, mit welcher Genauigkeit an den Feinheiten und am Tempo des Textes gearbeitet wurde. Die Spielerinnen und Spieler arbeiten sich sprechend durch seitenweise Monolog. Dabei sie sind eindringlich, ironisch, zögernd, laut, scheu, sie gestikulieren und spielen mit dem ganzen Körper. (Einzig die kleinen Flachfigürchen aus Pappe hätten sie lieber in der Modellbühne gelassen). Nur in wenigen Momenten wirken sie etwas verloren, mit nichts als ein paar Kuben im Hintergrund und den riesigen Textbergen vor sich.
Warum tun sie das?
Das eigentliche Problem der Inszenierung ist aber ein anderes: Egal wie gut die Schauspieler den Text sprechen, sie sprechen einfach den Text. Man fragt sich unweigerlich: Wer sind die vier Leute, die dem Publikum diese Geschichte erzählen? Und wieso tun sie das überhaupt? Lügen sie? Wollen sie uns berühren? Belehren? Unterhalten?
Solchen Fragen verweigert sich die Regie komplett. Sie setzt alleine auf die im Stück erzählte Geschichte. Und die ist ja auch sehr gut. Nur bleibt unklar, was Roppel am Stück eigentlich interessiert hat. Ist es die Liebe? Gegenseitigkeit als deren Bedingung? Das vertrackte Spiel mit der Fiktion? Eine Antwort gibt es nicht, und so bleibt das Stück über weite Teile schön gesprochener Text. Trotzdem: warmer Premierenapplaus, auch für die Inszenierung.