Das gefährdete Leben

Drei Bücher zu 9/11 in Erinnerung gerufen – 15 Jahre danach. Von Florian Vetsch.
Von  Gastbeitrag

Zum sachlichen Aspekt von 9/11, dieser «Mutter aller Ereignisse» (Jean Baudrillard), ist, zumal wegen der grassierenden Verschwörungstheorien, Nick Fieldings und Yosri Foudas Recherche Masterminds of Terror – Die Drahtzieher vom 11. September berichten eine unabdingbare Voraussetzung. Wer wissen will, wie der Anschlag, der 3056 Tote in New York, Washington und bei Shanksville forderte, geplant und realisiert wurde, wer die Fakten erfahren und nicht Vermutungen auf den Leim gehen will, der muss dieses Buch kennen.

Darin lässt sich zum Beispiel nachlesen, dass Osama bin Laden in den vorbereitenden E-Mails und Telefongesprächen der Bande um Mohammed Atta «Professor» genannt wurde, das World Trade Center «Fakultät für Stadtplanung», das Pentagon «Fakultät der Schönen Künste» und das Kapitol, das Ziel des bei Shanksville abgestürzten Flugs 93, «Juristische Fakultät»; das Datum wurde gleichfalls verschlüsselt bekannt gegeben: «Zwei Stöcke, ein Strich und ein Kuchen, an dem ein Stock baumelt.» Zeichnet man das von rechts nach links, also in der arabischen Schreibrichtung, so ergibt sich: 9/11.

Die blinden Flecken der Islamisten

Über das Weltbild der Attentäter erfährt man viel in Abdelwahab Meddebs wegweisender Studie Die Krankheit des Islam. Meddeb verteidigt darin seinen eigenen Glauben gegen die Zumutungen der Fundamentalisten, zumal der Salafisten und Wahhabiten.

Deren Ideologie diagnostiziert er als «Krankheit des Islam». Zum Krankheitsbild zählen gemäss Meddeb folgende Phänomene: Amnesie (Gedächtnisverlust) – der Fundamentalismus vergisst die Blütezeiten der eigenen Geschichte, blendet zum Beispiel die philosophischen Grundlagen der Epoche des goldenen Zeitalters des Islam, welche auf Toleranz beruhten, aus; Anämie (Blutleere) – der Fundamentalismus vertritt ein verknöchertes, vorsintflutliches Zerrbild der eigenen Religion und verdrängt die ganze Sinnlichkeit der islamischen Kultur, wie sie sich etwa in den berühmten Erzählungen aus 1001 Nacht oder in der mystischen Glut des Sufismus von Ibn Arabi, Rumi oder Hafis niedergeschlagen hat; Antisemitismus – der Fundamentalismus wittert hinter allem die angebliche Weltverschwörung der Juden, und so finden denn Hitlers Mein Kampf, unkommentiert natürlich, und Die Protokolle der Weisen von Zion, nachweislich eine Fälschung, in islamischen Ländern reissenden Absatz; Nihilismus – der Fundamentalismus täuscht hohe Werte (moralische Reinheit, Gottesglauben, ewiges Leben im Paradies etc.) vor, vermag aber nur zu vernichten und nichts Menschenwürdiges aufzubauen, sodass die vorgegebenen hohen Werte leere Hülsen, blosse Fratzen sind.

Butlers gewaltfreie Ethik

Dem Nachdenken hinreichend Nahrung gibt schliesslich die Aufsatzsammlung Gefährdetes Leben der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler, übrigens der ersten und bis heute einzigen weiblichen Trägerin des renommierten Adorno-Preises (2012). In fünf politischen Essays, die eine starke Re-Aktion auf 9/11 darstellen, entwickelt Butler eine «gewaltfreie Ethik, die auf einer Erkenntnis der Gefährdetheit des Lebens beruht».

Dabei setzt die erfahrene Gender-Theoretikerin ganz unten an, bei der Basis, dem Körper, bei Erfahrungen, die wir alle machen. Deshalb hat ihre Argumentation etwas Unwiderlegliches: «Der Körper impliziert Sterblichkeit, Verwundbarkeit, Handlungsfähigkeit: Die Haut und das Fleisch setzen uns dem Blick anderer aus, aber auch der Berührung und der Gewalt; und Körper bergen die Möglichkeit, dass auch wir selbst zur Handlungsinstanz und zum Instrument alles dessen werden. Obwohl wir für Rechte der Verfügung über unsere Körper kämpfen, sind gerade diese Körper, für die wir kämpfen, nicht unsere eigenen. Der Körper hat unweigerlich seine öffentliche Dimension. Als in der öffentlichen Sphäre geschaffenes soziales Phänomen gehört mein Körper mir und doch nicht mir. Als Körper, der von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist, trägt er ihren Abdruck, wird im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt. Erst später und mit einiger Unsicherheit erhebe ich Anspruch auf meinen Körper als den, der mir gehört, wenn ich das überhaupt jemals tue.»

Judith Butler macht klar, dass der Mensch durch die Art seines physisch bedingten Zur-Welt-Kommens und seines sozial verflochtenen In-der-Welt-Seins immer zu anderen in Beziehung steht. Wir sind keine autonomen Wesen, die sich selbst das Gesetz für ihr Tun und Lassen geben könnten. Wir leben immer schon in Beziehung zu anderen, und das schränkt unsere Autonomie, die keinem von uns von Anfang an gegeben war, ein. Übertragen wir diesen Gedanken ins Politische, so werden unilaterale Entscheidungen, das Pochen auf Autonomie um jeden Preis, im globalen Zusammenhang fragwürdig.

Generell hält Butler in ihrem Vorwort fest, dass es ihr mit dieser Sammlung von Essays darum gehe, «die Chance zu eröffnen, sich eine Welt vorzustellen, in der solche Gewalt minimiert werden könnte, in der eine unausweichliche wechselseitige Abhängigkeit als Basis für die politische Weltgesellschaft anerkannt werden würde». Es tut gut, Butler zu lesen. Ihre Gedanken halten zur Differenziertheit an, stossen mutig die Türen zu einer alternativen Weltpolitik auf und rufen eindrücklich den Wert des eigenen und des fremden Lebens in Erinnerung. Hieran sollte man denken, wenn sich 9/11 wieder jährt.

Judith Butler: Gefährdetes Leben – Politische Essays (aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005.

Nick Fielding / Yosri Fouda: Masterminds of Terror – Die Drahtzieher des 11. September berichten – Der Insider-Report von al-Qaida (aus dem Englischen von Heinrich Versteegen). Europa Verlag Hamburg 2003.

Abdelwahab Meddeb: Die Krankheit des Islam (aus dem Französischen von Beate Thill und Hans Thill). Wunderhorn Heidelberg 2002.

Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.